BESUCH DES HEILIGEN VATERS
BEIM WELTKIRCHENRAT IN GENF
ZU DESSEN 70. GRÜNDUNGSTAG
ÖKUMENISCHES GEBET
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
Ökumenisches Zentrum ÖRK (Genf)
Donnerstag, 21. Juni 2018
Liebe Brüder und Schwestern,
wir haben die Worte des Apostels Paulus an die Galater gehört, die Belastungen und interne Auseinandersetzungen erlebten. Denn es gab Gruppen, die aneinandergerieten und sich gegenseitig anklagten. In diesem Zusammenhang lädt der Apostel gleich zweimal innerhalb von wenigen Versen dazu ein, im Geist zu wandeln (vgl. Gal 5,16.25).
Wandeln. Der Mensch ist ein Lebewesen auf dem Weg. Das ganze Leben über ist er gerufen, sich auf den Weg zu machen und ständig von dort hinauszugehen, wo er sich befindet: wann er aus dem Mutterleib geboren wird, wann er von einem Lebensalter zu einem anderen übergeht; vom Augenblick, in dem er das Elternhaus verlässt bis hin zum Moment, in dem er aus diesem irdischen Dasein scheidet. Der Weg ist ein Gleichnis, das den Sinn des menschlichen Lebens offenbart, eines Lebens, das nicht sich selbst genügt, sondern immer auf der Suche ist nach etwas, was darüber hinausgeht. Das Herz lädt uns ein, zu einem Ziel zu gehen, es zu erreichen.
Aber Gehen bedeutet Disziplin, Anstrengung, es bedarf der täglichen Geduld und der beständigen Übung. Man muss auf viele Straßen verzichten, um jene zu wählen, die zum Ziel führt. Dazu muss man die Erinnerung wach halten, um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Ziel und Erinnerung. Gehen erfordert die Demut kehrtzumachen, wenn es notwendig ist. Gehen schließt die Sorge um die Weggefährten ein, weil man nur gemeinsam gut geht. Gehen verlangt also eine beständige Bekehrung von sich selbst. Deshalb verzichten viele darauf und ziehen die häusliche Ruhe vor, in der sie bequem die eigenen Angelegenheiten pflegen können, ohne sich den Risiken der Reise auszusetzen. Aber so klammert man sich an flüchtige Sicherheiten, die nicht jenen Frieden und jene Freude geben, nach denen sich das Herz sehnt, und die man nur findet, wenn man aus sich selbst herausgeht.
Gott ruft uns hinauszugehen, von Anfang an. Schon von Abraham wurde verlangt, sein Land zu verlassen, sich auf den Weg zu machen und sich allein mit dem Vertrauen auf Gott auszurüsten (vgl. Gen 12,1). So haben Mose, Petrus und Paulus und alle Freunde des Herrn ein Leben auf dem Weg geführt. Aber vor allem Jesus hat uns dafür ein Beispiel gegeben. Für uns ist er aus seiner göttlichen Gestalt (vgl. Phil 2,6-7) herausgegangen und ist zu uns hinabgestiegen, um sich auf den Weg zu machen, er, der der Weg ist (vgl. Joh 14,6). Er, der Herr und Meister, hat sich zum Pilger und Gast unter uns gemacht. Als er zum Vater zurückgekehrt war, hat er uns seinen eigenen Geist geschenkt, so dass auch wir die Kraft haben, in seine Richtung zu gehen und das zu vollziehen, was Paulus fordert: im Geiste zu wandeln.
Im Geiste. Wenn schon jeder Mensch ein Lebewesen auf dem Weg ist, der seine Berufung verleugnet, wenn er sich in sich selbst verschließt, so gilt dies umso mehr für den Christen. Denn, so unterstreicht Paulus, das christliche Leben stellt uns vor die absolute Alternative: einerseits im Geiste zu wandeln und der von der Taufe vorgezeichneten Spur zu folgen oder andererseits »das Begehrten des Fleisches zu erfüllen« (Gal 5,16). Was sagt diese Formulierung aus? Sie bedeutet, sich selbst verwirklichen zu wollen, indem man dem Weg des Besitzes, der Logik des Egoismus folgt. Gemäß dieser Logik versucht der Mensch, hier und jetzt all das, was ihm gefällt, anzuhäufen. Er geht nicht vertrauensvoll in die Richtung mit, die Gott ihm aufzeigt, sondern er verfolgt seine eigenen Wege. Uns stehen die Konsequenzen dieser tragischen Entwicklung vor Augen: Der Mensch verliert in der Gier nach Dingen die Weggefährten aus dem Blick; so herrscht auf den Straßen der Welt eine große Gleichgültigkeit. Geleitet von seinen Trieben wird der Mensch zum Sklaven eines ungebremsten Konsumismus: So wird die Stimme Gottes zum Schweigen gebracht; so werden die anderen, vor allem wenn sie unfähig sind, mit den eigenen Beinen zu gehen wie die Kleinen und die Alten, zu lästigem Abfall; dann hat die Schöpfung keinen anderen Sinn mehr, als der Produktion in Abhängigkeit von den Bedürfnissen zu genügen.
Liebe Brüder und Schwestern, diese Worte des Apostels Paulus sprechen uns heute mehr denn je an: im Geist zu wandeln ist die Weltlichkeit zu verwerfen. Es bedeutet, die Logik des Dienstes zu wählen und in der Vergebung fortzuschreiten. Es bedeutet, sich in der Gangart Gottes in die Geschichte herabzusenken: nicht mit der dröhnenden Gangart der Machtanmaßung, sondern mit jener, die dem Rhythmus eines einzigen Gebotes folgt: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (V. 14). Denn der Weg des Geistes ist von den Meilensteinen gekennzeichnet, die Paulus aufzählt: »Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit« (V. 22).
Wir sind gemeinsam gerufen, so zu wandeln: Der Weg führt über eine beständige Bekehrung, über die Erneuerung unserer Denkweise, damit sie sich an jene des Heiligen Geistes anpasse. Im Lauf der Geschichte ist es oft zu Trennungen unter den Christen gekommen, weil sich an der Wurzel, im Leben der Gemeinschaften, eine weltliche Denkweise eingeschlichen hatte: Zuerst versorgte man die Eigeninteressen, dann jene von Jesus Christus. In diesen Situationen hatte der Feind Gottes und des Menschen leichtes Spiel, um uns zu trennen, weil die eingeschlagene Richtung jene des Fleisches war, nicht jene des Geistes. Auch einige Versuche in der Vergangenheit, diesen Trennungen ein Ende zu setzen, sind elend gescheitert, weil sie sich hauptsächlich an einer weltlichen Logik orientierten. Aber die ökumenische Bewegung, zu der der Ökumenische Rat der Kirchen viel beigetragen hat, wurde durch die Gnade des Heiligen Geistes erweckt (vgl. Vaticanum II, Unitatis redintegratio, 1). Die Ökumene hat uns dem Willen Jesu entsprechend in Bewegung gesetzt und wird voranschreiten können, wenn sie immer unter der Führung des Heiligen Geistes wandelnd jede Verkrümmung auf sich selbst abweisen wird.
Aber – so könnte man einwenden – auf diese Weise zu wandeln bedeutet, mit Verlust zu arbeiten, weil man nicht zu Genüge die Eigeninteressen der Gemeinschaften schützt, die oftmals eng an ethnische Zugehörigkeiten oder überkommene Vorstellungen gebunden sind, seien sie mehrheitlich „konservativ“ oder „fortschrittlich“. Ja, zuerst zu Jesus zu halten, bevor man zu Apollos oder zu Kephas hält (vgl. 1 Kor 1,12); in Christi zu sein, bevor man »Jude oder Grieche« (vgl. Gal 3,28) ist; zum Herrn zu gehören, bevor man rechts oder links ist; im Namen des Evangeliums sich für den Bruder anstatt für sich selbst zu entscheiden; das bedeutet oftmals in den Augen der Welt, mit Verlust zu arbeiten. Scheuen wir uns nicht davor, Verluste zu machen! Die Ökumene ist „ein großes Verlustgeschäft“. Aber es handelt sich um einen dem Evangelium gemäßen Verlust entsprechend der von Jesus vorgezeichneten Spur: »Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten« (Lk 9,24). Das Eigene zu retten bedeutet, im Fleisch zu wandeln; sich in der Nachfolge Jesu zu verlieren bedeutet, im Geist zu wandeln. Nur so bringt man im Weinberg des Herrn Frucht. Wie Jesus selbst lehrt, bringen nicht diejenigen, die anhäufen, im Weinberg des Herrn Frucht, sondern diejenigen, die dienen und der Logik Gottes folgen, der weiterhin schenkt und sich selbst schenkt (vgl. Mt 21,33-42). Es ist die österliche Logik, die einzige, die Frucht trägt.
Wenn wir auf unseren Weg schauen, können wir uns in einigen Situationen der Gemeinden Galatiens von damals widerspiegeln: Wie schwierig ist es, die Feindseligkeiten zu beschwichtigen und die Gemeinschaft zu fördern; wie mühsam ist es, aus Gegensätzen und wechselseitigen Ablehnungen herauszukommen, die über Jahrhunderte genährt wurden! Noch schwieriger ist es, jener heimtückischen Versuchung zu widerstehen: mit den anderen zusammen zu sein, miteinander zu gehen, aber in der Absicht, irgendein Eigeninteresse durchzusetzen. Dies ist nicht die Logik des Apostels, es ist die des Judas, der zusammen mit Jesus wandelte, aber zum eigenen Vorteil. Die Antwort auf unsere wankenden Schritte ist immer die gleiche: im Geist wandeln, indem wir das Herz vom Bösen reinigen, mit heiliger Hartnäckigkeit den Weg des Evangeliums wählen und die Schleichwege der Welt ablehnen.
Nach vielen Jahren ökumenischen Einsatzes bitten wir den Geist an diesem siebzigsten Jahrestag des Rates, unsere Schritte zu stärken. Zu leicht bleiben wir angesichts der bestehenden Unterschiede stehen; zu oft bleiben wir, vom Pessimismus niedergedrückt, im Aufbruch strecken. Wir sollten uns nicht mit den Entfernungen herausreden, es ist jetzt schon möglich, im Geist zu wandeln: beten, evangelisieren, gemeinsam dienen, das ist möglich und Gott wohlgefällig! Gemeinsam gehen, gemeinsam beten, gemeinsam arbeiten: Das ist unser Königsweg heute.
Diese Straße hat ein festes Ziel: die Einheit. Die entgegengesetzte Straße, jene der Spaltung, führt zu Kriegen und Zerstörungen. Es genügt, auf die Geschichte zu schauen. Der Herr bittet uns, beständig den Weg der Gemeinschaft einzuschlagen, der zum Frieden führt. Die »Spaltung widerspricht aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen« (Unitatis redintegratio, 1). Der Herr bittet uns um Einheit; die Welt, zerrissen von zu vielen Spaltungen, die vor allem die Schwächsten treffen, ruft nach Einheit.
Liebe Brüder und Schwestern, es war mein Wunsch, als Pilger auf der Suche nach Einheit und Frieden hierher zu kommen. Ich danke Gott, weil ich hier euch, Brüder und Schwestern, die schon unterwegs sind, angetroffen habe. Gemeinsam gehen ist für uns Christen nicht eine Strategie, um größer herauszukommen, sondern ist ein Akt des Gehorsams gegenüber dem Herrn und der Liebe zur Welt. Gehorsam gegenüber Gott und Liebe zur Welt, die wahre Liebe, die rettet. Bitten wir den Vater, mit mehr Kraft auf den Wegen des Geistes gemeinsam zu wandeln. Das Kreuz gebe die Richtung des Weges vor, weil dort, in Jesus, die Mauern der Trennung schon niedergerissen sind und jede Feindschaft überwunden ist (vgl. Eph 2,14): Dort verstehen wir, dass uns trotz unserer Schwächen niemals irgendetwas von seiner Liebe scheiden wird (vgl. Röm 8,35-39). Danke.
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