APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH CHILE UND PERU
(15.-22. JANUAR 2018)
BEGEGNUNG MIT DEN VÖLKERN AMAZONIENS
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
Freilufttheater "Madre de Dios" (Puerto Maldonado)
Freitag, 19. Januar 2018
Liebe Brüder und Schwestern,
da ich mit euch zusammen bin, steigt der Gesang des heiligen Franziskus in meinem Herzen auf: »Gelobt seist du, mein Herr!« Ja, gelobt seist du für die Gelegenheit, die du uns mit dieser Begegnung schenkst. Danke, Bischof David Martínez de Aguirre Guinea, HerrHéctor, Frau Yésica und Frau María Luzmila, für eure Willkommensworte und eure Zeugnisse. In euch möchte ich allen Bewohnern Amazoniens danken und sie grüßen.
Ich sehe, dass ihr von den verschiedenen autochthonen Völkern Amazoniens gekommen seid: Harakbut, Esse-ejas, Matsiguenkas, Yines, Shipibos, Asháninkas, Yaneshas, Kakintes, Nahuas, Yaminahuas, Juni Kuin, Madijá, Manchineris, Kukamas, Kandozi, Quichuas, Huitotos, Shawis, Achuar, Boras, Awajún, Wampís, unter anderen. Ebenso sehe ich, dass uns Völker begleiten, die aus den Anden stammend hier in den Urwald gekommen und zu Völkern Amazoniens geworden sind. Ich habe diese Begegnung sehr ersehnt. Ich wollte von hier aus meinen Besuch in Peru beginnen. Danke für eure Präsenz und dafür, dass ihr mir uns helft, aus größerer Nähe, in euren Gesichtern, den Widerschein dieser Region zu sehen. Ein vielfältiges Angesicht, von unendlicher Varietät und von einem enormen biologischen, kulturellen, spirituellen Reichtum. Wir, die wir nicht in diesen Gebieten leben, brauchen eure Weisheit und euer Wissen, um ohne Zerstörung in den Schatz eintreten zu können, den diese Region in sich birgt; und die Worte des Herrn an Mose hallen wider: »Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden« (Ex 3,5).
Erlaubt mir, noch einmal zu sagen: Gelobt seist du, Herr, für dieses wunderbare Werk deiner Völker Amazoniens und für all die Biodiversität, die diese Gebiete beinhalten!
Dieser Lobgesang kommt ins Stocken, wenn wir von den tiefen Wunden hören und sie sehen, die Amazonien und seine Völker tragen. Und ich wollte euch besuchen kommen und euch zuhören, um gemeinsam im Herzen der Kirche zu sein, uns mit euch in euren Herausforderungen zu vereinen und mit euch eine aufrichtige Option für die Verteidigung des Lebens, die Verteidigung der Erde und die Verteidigung der Kulturen zu bekräftigen.
Wahrscheinlich waren die autochthonen Völker Amazoniens in ihren Territorien nie derart bedroht, wie sie es heute sind. Die Amazonasregion ist ein von verschiedenen Fronten aus umstrittenes Gebiet: auf der einen Seite der Neo-Extraktivismus und der starke Druck durch große ökonomische Interessen, die ihre Gier auf Erdöl, Gas, Holz, Gold und industrielle landwirtschaftliche Monokulturen richten. Auf der anderen Seite kommt die Bedrohung für eure Gebiete auch durch die Perversion gewisser politischer Richtungen, die die „Bewahrung“ der Natur fördern, ohne das menschliche Wesen und konkret euch Brüder und Schwestern Amazoniens zu berücksichtigen, die ihr in diesen Gebieten wohnt. Wir wissen von Bewegungen, die im Namen der Bewahrung des Urwalds große Waldgebiete aufkaufen und mit ihnen handeln und so Situationen der Unterdrückung der autochthonen Völker erzeugen, für die auf diese Weise das Territorium und die natürlichen Ressourcen unzugänglich werden. Diese Problematik erstickt eure Völker und verursacht die Migration der neuen Generationen angesichts des Fehlens lokaler Alternativen. Wir müssen mit dem historischen Paradigma brechen, welches das Amazonasgebiet als ein unerschöpfliches Vorratslager der Staaten betrachtet, ohne seine Bewohner zu berücksichtigen.
Ich betrachte es als unerlässlich, Anstrengungen zu unternehmen, um institutionelle Räume des Respekts, der Anerkennung und des Dialogs mit den indigenen Völkern zu schaffen; und so die ihnen eigene Kultur, Sprache, Traditionen, Rechte und Spiritualität aufzugreifen und zu retten. Einen interkulturellen Dialog, in dem ihr die »wesentlichen Ansprechpartner seid, vor allem wenn man mit großen Projekten vordringt, die eure Gebiete einbeziehen.«[1] Die Anerkennung und der Dialog ist sind wohl der bessere Weg, um die historischen, von Ausschluss und Diskriminierung geprägten Beziehungen umzugestalten.
Auf der anderen Seite ist es richtig anzuerkennen, dass es hoffnungsvolle Initiativen gibt, die von euren lokalen Gegebenheiten selbst und von euren Organisationen ausgehen und es begünstigen, dass die autochthonen Völker und Gemeinschaften selbst die Hüter der Wälder sind und dass die durch deren Erhalt geschaffenen Ressourcen dem Wohl eurer Familien, der Verbesserung eurer Lebensbedingungen und der Gesundheit und Ausbildung eurer Gemeinschaften zugutekommen. Dieses „gute Handeln“ geht in Einklang mit den Praktiken des „guten Lebens“, das wir in der Weisheit unserer Völker entdecken. Wenn auch einige euch als Hindernis oder „Störenfried“ betrachten, möchte ich euch sagen, dass ihr mit eurem Leben in Wahrheit in die Gewissen derer schreit, die einem Lebensstil folgen, der es nicht schafft, die eigenen Kosten zu bemessen. Ihr seid lebendige Erinnerung an die Sendung, die Gott uns allen anvertraut hat: das „gemeinsame Haus“ zu bewahren.
Die Verteidigung des Landes hat keine andere Zielsetzung als die Verteidigung des Lebens. Wir wissen um das Leiden, das einigen von euch durch die Erdöllecks widerfährt, die das Leben eurer Familien ernsthaft bedrohen und euren natürlichen Lebensraum vergiften.
Parallel dazu gibt es eine weitere Verwüstung des Lebens, die mit dieser Umweltvergiftung durch den illegalen Bergbau einhergeht. Ich beziehe mich auf den Menschenhandel: die Sklavenarbeit oder den sexuellen Missbrauch. Die Gewalt gegenüber Jugendlichen und gegenüber Frauen ist ein Klageschrei, der zum Himmel steigt: »Immer hat mich die Situation derer mit Schmerz erfüllt, die Opfer der verschiedenen Formen von Menschenhandel sind. Ich würde mir wünschen, dass man den Ruf Gottes hörte, der uns alle fragt: „Wo ist dein Bruder?“ (Gen 4,9). Wo ist dein Bruder, der Sklave? […] Tun wir nicht, als sei alles in Ordnung« und schauen wir nicht auf die andere Seite! »Es gibt viele Arten von Mittäterschaft. Die Frage geht alle an!«.[2]
Wie sollte man nicht an den heiligen Turibio von Mongrovejo erinnern, als er mit großem Schmerz beim dritten Konzil von Lima feststellte, »dass nicht nur in vergangenen Zeiten diesen Armen so viel an Unrecht und Gewalt mit so großem Exzess angetan wurde, sondern auch heute viele versuchen, das gleiche zu tun …« (Ses. III, c.3). Leider sind diese Worte fünf Jahrhunderte später immer noch aktuell. Die prophetischen Worte jener Männer des Glaubens – wie es uns Héctor und Yésica in Erinnerung gerufen haben – sind der Schrei dieses Volkes, das viele Male zum Schweigen gebracht wurde oder denen das Wort entzogen wurde. Diese Prophetie muss in unserer Kirche fortdauern, die nie aufhören wird, für die Ausgeschlossenen und die, die leiden, die Stimme zu erheben.
Aus dieser Sorge geht die vorrangige Option für das Leben der Wehrlosesten hervor. Ich denke an die Völker, auf die sie sich unter der Bezeichnung „Indigene Völker in Freiwilliger Isolation“ („Pueblos Indígenas en Aislamiento Voluntario“, PIAV) bezieht. Wir wissen, dass sie die Verwundbarsten unter den Verwundbaren sind. Der Rückstand vergangener Epochen zwang sie dazu, sich sogar von den eigenen Volksgruppen zurückzuziehen, sie machten sich auf zu einer Geschichte der Gefangenschaft an den unzugänglichsten Orten des Urwaldes, um in Freiheit leben zu können. Setzt die Verteidigung dieser am meisten verwundbaren Brüder und Schwestern weiter fort! Ihre Präsenz erinnert uns daran, dass wir über die Gemeingüter nicht im Rhythmus der Gier und des Konsums verfügen können. Es ist notwendig, dass es Grenzen gibt, die uns helfen, uns vor jedem Versuch massiver Zerstörung des natürlichen Lebensraums, der uns zu Erben einsetzt, zu bewahren.
Die Anerkennung dieser Völker – die niemals als eine Minderheit betrachtet werden können, sondern als authentische Gesprächspartner – sowie aller indigener Völker erinnert uns daran, dass wir nicht die absoluten Herren der Schöpfung sind. Es ist dringend notwendig, den wesentlichen Beitrag anzunehmen, den sie der ganzen Gesellschaft anbieten, und nicht ihre Kulturen zu einer Idealisierung eines Naturzustandes oder zu einer Art Museum eines Lebensstils von ehemals zu machen. Ihre Weltanschauung, ihre Weisheit haben uns, die wir nicht zu ihrer Kultur gehören, vieles zu lehren. Alle Anstrengungen, die wir unternehmen, um das Leben der Völker Amazoniens zu verbessern, werden immer zu wenige sein. Die Nachrichten, die über die Ausbreitung einiger Krankheiten eintreffen, sind besorgniserregend. Das Schweigen darüber ist erschreckend, denn es tötet. Mit Schweigen ergreifen wir weder Präventivmaßnahmen – insbesondere zugunsten Jugendlicher und junger Menschen –, noch kümmern wir uns um die Kranken, sondern verurteilen sie so zur grausamsten Ausgrenzung. Wir fordern die Staaten auf, eine interkulturelle Gesundheitspolitik durchzuführen, welche die Realität und die Vision des Kosmos der Menschen berücksichtigt, indem sie Fachleute der eigenen Volksgruppe fördert, die es verstehen, der Krankheit von ihrer eigenen Weltanschauung her gegenüberzutreten. Und wie ich es in Laudato si’ zum Ausdruck gebracht habe, ist es einmal mehr notwendig, unsere Stimme zu erheben gegen den Druck, den internationale Organisationen auf bestimmte Länder ausüben, damit diese eine Politik der sterilisierenden Reproduktion fördern. Diese wüten in einer noch einschneidenderen Weise in den einheimischen Populationen. Wir wissen, dass unter ihnen die Sterilisation von Frauen weiterhin gefördert wird, manchmal ohne das Wissen der Frauen selbst.
Die Kultur unserer Völker ist ein Lebenszeichen. Die Amazonasregion ist nicht nur ein Reservat der Artenvielfalt, sondern sie ist auch ein kulturelles Reservat, das angesichts der neuen Kolonialismen erhalten werden muss. Die Familie ist – wie eine von euch gesagt hat – und war immer die soziale Institution, die am meisten dazu beigetragen hat, unsere Kulturen am Leben zu erhalten. In Zeiten vergangener Krisen, angesichts der verschiedenen Imperialismen, war die Familie der autochthonen Völker die beste Verteidigung des Lebens. Wir sind aufgefordert, besonders darauf zu achten, nicht von als Fortschritt verkleideten ideologischen Kolonialismen gefangen zu werden, die nach und nach eindringen und kulturelle Identitäten verpassen und eine uniforme, einzige ... und schwache Denkweise etablieren. Hört auf die Alten, bitte. Sie haben eine Weisheit, die sie in Kontakt mit dem Transzendenten bringt und die das Wesentliche des Lebens entdecken lässt. Vergessen wir nicht, dass »das Verschwinden einer Kultur genauso schwerwiegend sein kann wie das Verschwinden einer Tier- oder Pflanzenart, oder sogar noch gravierender«.[3] Und die einzige Weise, wie die Kulturen nicht verloren gehen, besteht darin, dass sie in Dynamik, in ständiger Bewegung bleiben. Wie wichtig ist das, was Yésica und Héctor uns gesagt haben: »Wir wollen, dass unsere Kinder lernen, aber wir wollen nicht, dass die Schule unsere Traditionen, unsere Sprachen auslöscht, wir wollen unsere uralte Weisheit nicht vergessen!«
Die Bildung hilft uns, Brücken zu bauen und eine Kultur der Begegnung hervorzubringen. Die Schule und die Erziehung der autochthonen Völker müssen für den Staat eine Priorität und ein verpflichtendes Engagement sein; ein integratives und inkulturiertes Engagement, das ihre uralte Weisheit als ein Gut der gesamten Nation aufnimmt, respektiert und integriert, wie uns María Luzmila aufgezeigt hat.
Ich bitte meine Mitbrüder im Bischofsamt, dass sie – wie es in den entlegensten Gebieten des Urwaldes bereits praktiziert wird – die Schaffung von Räumen der interkulturellen und zweisprachigen Erziehung in Schulen und in den pädagogischen Instituten und Universitäten weiter vorantreiben.[4] Ich beglückwünsche die Initiativen, die von der Kirche der peruanischen Amazonasregion zur Förderung der autochthonen Völker bereits unternommen werden: Schulen, Studentenwohnheime, Forschungs- und Förderzentren wie das „Kulturzentrum José Pío Aza“, das „Amazonische Zentrum für Anthropologie und Praktische Anwendung“ (CAAAP) und das „Zentrum für Theologische Studien Amazoniens“ (CETA), innovative und wichtige interkulturelle universitäre Räume wie das bilinguale Programm „NOPOKI“ der Katholischen Universität Sedes Sapientiae in Atalaya, die speziell auf die Ausbildung junger Menschen aus den verschiedenen ethnischen Gruppen unserer Amazonasregion ausgerichtet sind.
Ich gratuliere auch all jenen jungen Menschen aus den autochthonen Völkern, die sich bemühen, eine neue Anthropologie – aus ihrer eigenen Sicht heraus – zu schaffen, und die daran arbeiten, die Geschichte ihrer Völker aus ihrer Perspektive neu zu lesen. Ich gratuliere auch denjenigen, die durch die Malerei, die Literatur, das Kunsthandwerk und die Musik der Welt ihre Weltanschauung und ihren kulturellen Reichtum aufzeigen. Viele haben über euch geschrieben und geredet. Es ist gut, dass ihr selbst nun diejenigen seid, die sich selbst beschreiben und uns ihre Identität zeigen. Wir haben es nötig, auf euch zu hören.
Liebe Brüder und Schwestern Amazoniens, wie viele Missionare haben sich für eure Völker eingesetzt und haben eure Kulturen verteidigt! Sie haben es inspiriert vom Evangelium getan. Auch Christus wurde Mensch in einer Kultur – der hebräischen –, und von ihr aus schenkte er sich als Neuheit allen Völkern, so dass jeder Einzelne – von seiner eigenen Identität her – sich in ihm selbstbestätigt fühlen möge. Unterliegt nicht den Versuchen, den katholischen Glauben eurer Völker mit den Wurzeln herauszureißen.[5] Jede Kultur und jede Weltanschauung, die das Evangelium empfängt, bereichert die Kirche mit dem Anblick einer neuen Facette des Antlitzes Christi. Die Kirche bleibt nicht unbeteiligt gegenüber eurer Problematik und eurem Leben, sie will eurer Lebensweise und Organisationsform nicht fern sein. Wir brauchen es notwendig, dass die autochthonen Völker die Ortskirchen Amazoniens kulturell gestalten. Und in dieser Hinsicht hat es mich sehr gefreut zu hören, dass einer der Abschnitte von Laudato si’ von einem ständigen Diakon eurer Kultur gelesen wurde. Helft euren Bischöfen, helft euren Missionaren und euren Missionarinnen, damit sie mit euch eins werden und auf diese Weise im Dialog aller miteinander eine Kirche mit amazonischem Gesicht und eine Kirche mit indigenem Gesicht herausbilden können. In diesem Sinne habe ich für das Jahr 2019 eine Synode für Amazonien einberufen, deren erstes Treffen als präsynodale Beratung hier heute Nachmittag stattfinden wird.
Ich vertraue auf die Widerstandsfähigkeit der Völker und ihre Fähigkeit, auf die schwierigen Zeiten zu reagieren, in denen sie leben müssen. Dies habt ihr in den verschiedenen Stürmen der Geschichte gezeigt: mit euren Beiträgen, mit eurer differenzierten Sicht der menschlichen Beziehungen, mit der Umwelt und mit dem Leben des Glaubens.
Ich bete für euch und für euer von Gott gesegnetes Land, und ich ersuche euch, vergesst bitte nicht, für mich zu beten.
Vielen Dank.
Tinkunakama. (In Quechua: Bis zur nächsten Begegnung.)
[1] Vgl. Enzyklika Laudato si’, 146.
[2] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 211.
[3] Enzyklika Laudato si’, 145.
[4] Vgl. Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida (29. Juni 2007), 530.
[5] Vgl. ebd., 531.
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