BEGEGNUNG MIT DEN GLÄUBIGEN
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
Vorplatz des Friedhofs von Alessano (Lecce)
Freitag, 20. April 2018
Liebe Brüder und Schwestern!
Ich bin als Pilger in diese Region gekommen, wo der Diener Gottes Tonino Bello geboren wurde. Ich habe gerade an seinem Grab gebetet, das nicht monumental in die Höhe ragt, sondern ganz in die Erde eingelassen ist: Don Tonino, eingesät in seine Erde – er, gleichsam ein gesätes Samenkorn –, scheint uns sagen zu wollen, wie sehr er diese Gegend geliebt hat. Darüber möchte ich nachdenken, indem ich zunächst einige Worte der Dankbarkeit von ihm in Erinnerung rufe: »Danke, meine Heimat: Klein und arm wie du bist, hast du mich arm wie du hervorgebracht.
Aber gerade deshalb hast du mir den unvergleichlichen Reichtum geschenkt, die Armen zu verstehen und ihnen heute bereitwillig dienen zu können.«[1] Die Armen zu verstehen war für ihn wahrer Reichtum; es bedeutete auch, seine Mutter zu verstehen. Die Armen zu verstehen war sein Reichtum. Er hatte recht, denn die Armen sind wirklich der Reichtum der Kirche. Ruf es uns wieder in Erinnerung, Don Tonino, angesichts der stets wiederkehrenden Versuchung, uns hinter die Mächtigen der Stunde zu stellen, Privilegien zu suchen, ein bequemes Leben zu führen! Das Evangelium – daran hast du gewöhnlich zu Weihnachten und zu Ostern erinnert – ruft zu einem oft unbequemen Leben, denn wer Jesus nachfolgt, liebt die Armen und die Niedrigen. So hat es der Meister getan, so hat es seine Mutter verkündigt, die Gott gepriesen hat, denn »er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen« (Lk 1,52). Eine Kirche, der die Armen am Herzen liegen, bleibt stets auf den Kanal Gottes eingestellt, verliert nie die Frequenz des Evangeliums und spürt, dass sie zum Wesentlichen zurückkehren muss, um konsequent zu bekennen, dass der Herr das einzige wahre Gut ist.
Don Tonino mahnt uns, die Nähe zu den Armen nicht zu theoretisieren, sondern ihnen nahe zu sein, wie Jesus es getan hat, der reich war und unseretwegen arm wurde (vgl. 2 Kor 8,9). Don Tonino verspürte das Bedürfnis, ihn nachzuahmen, sich persönlich einzubringen bis hin zur Selbstentäußerung. Ihn störten nicht die Bitten, ihn verletzte die Gleichgültigkeit. Er fürchtete nicht den Mangel an Geld, sondern er machte sich Sorgen über die Unsicherheit der Arbeit – ein heute noch sehr aktuelles Problem. Er verpasste keine Gelegenheit, um zu sagen, dass an erster Stelle der Arbeiter mit seiner Würde steht, nicht der Profit mit seiner Habgier. Er legte nicht die Hände in den Schoß: Er handelte auf lokaler Ebene, um auf globaler Ebene Frieden zu säen, in der Überzeugung, dass die beste Weise, um Gewalt und jeder Art von Krieg vorzubeugen, darin bestehe, Sorge zu tragen für die Notleidenden und die Gerechtigkeit zu fördern. Denn wenn der Krieg Armut hervorbringt, so bringt auch die Armut Kriege hervor.[2] Der Friede wird daher aufgebaut angefangen bei den Häusern, den Straßen, den Geschäften, dort, wo die Gemeinschaft mit eigenen Händen geformt wird. Hoffnungsvoll sagte Don Tonino: »Aus der Werkstatt wird – wie einst aus der Werkstatt in Nazaret – das Wort des Friedens kommen, das der nach Gerechtigkeit dürstenden Menschheit den Weg zu neuen Horizonten bahnen wird.«[3]
Liebe Brüder und Schwestern, diese Berufung zum Frieden gehört zu eurer Region, diesem wunderbaren Grenzland – »finis terrae« –, das Don Tonino als »Fenster-Land« bezeichnete, weil es sich von Süditalien her weit öffnet zu den vielen südlichen Teilen der Welt, wo »die Armen immer zahlreicher werden, während die Reichen immer reicher und immer weniger werden«[4]. Ihr seid ein »offenes Fenster, aus dem man jede Armut beobachten kann, die auf der Geschichte lastet«[5], aber vor allem seid ihr ein Fenster der Hoffnung, dass das Mittelmeer, das historische Becken der Kultur, niemals ein gespannter Kriegsbogen, sondern ein aufnahmebereiter Friedensbogen sein möge[6].
Don Tonino ist ein Mann seiner Heimat, denn in dieser Heimat ist sein Priestertum herangereift. Hier ist seine Berufung aufgekeimt, die er gerne als »evocazione«, als »Vor-Augen-Stellen«, bezeichnet hat: Sie stellt vor Augen, wie unbändig Gott unser schwaches Leben, ein jedes von ihnen, liebt. Sie ist der Widerhall seiner liebenden Stimme, die jeden Tag zu uns spricht; der Ruf, stets voranzugehen, mit Kühnheit zu träumen, das eigene Dasein aus dem Mittelpunkt zu rücken, um es in den Dienst zu stellen; die Einladung, Gott immer zu vertrauen: Er ist als Einziger in der Lage, das Leben in ein Fest zu verwandeln. Das ist die Berufung nach Don Tonino: ein Ruf, nicht nur fromme Gläubige zu werden, sondern wirklich in den Herrn verliebt zu sein, mit der Leidenschaft des Traumes, dem Elan der Hingabe, der Kühnheit, sich nicht mit Halbheiten zu begnügen.
Denn wenn der Herr das Herz entflammt, dann kann man die Hoffnung nicht auslöschen. Wenn der Herr um ein »Ja« bittet, dann kann man nicht mit einem »Vielleicht« antworten. Nicht nur den jungen Menschen, sondern uns allen – allen, die den Sinn des Lebens suchen – wird es gut tun, Don Toninos Worte noch einmal zu hören. In dieser Gegend wurde Antonio als Tonino geboren und wurde zu »Don Tonino«. Dieser einfache und vertraute Name, den wir auf seinem Grab lesen, spricht noch immer zu uns. Er erzählt von seinem Wunsch, klein zu werden, um nahe zu sein, den Abstand zu verringern, eine ausgestreckte Hand anzubieten. Er lädt ein zur einfachen und echten Offenheit des Evangeliums. Don Tonino hat sie sehr empfohlen und seinen Priestern als Erbe hinterlassen. Er sagte: »Lieben wir die Welt. Haben wir sie lieb. Nehmen wir sie beim Arm. Erweisen wir ihr Barmherzigkeit. Halten wir ihr nicht immer die Härte des Gesetzes entgegen, wenn wir diese nicht vorher mit einer Dosis Zärtlichkeit abgemildert haben«[7]. Es sind Worte, die den Wunsch nach einer Kirche für die Welt offenbaren: nicht weltlich, sondern für die Welt. Der Herr möge uns diese Gnade schenken: eine nicht weltliche Kirche im Dienst der Welt. Eine von Selbstbezogenheit gereinigte und »nach außen gewandte, sich hinauslehnende, nicht in sich selbst verschlossene« Kirche[8], die nicht darauf wartet, etwas zu empfangen, sondern erste Hilfe zu leisten; nie eingeschlummert in der Sehnsucht nach der Vergangenheit, sondern in Liebe zum Heute entflammt, nach dem Vorbild Gottes, der »die Welt so sehr geliebt« hat (Joh 3,16).
Der Name »Don Tonino« sagt uns auch etwas über seine gesunde Abneigung gegen Titel und Ehrenbezeichnungen; über seinen Wunsch, etwas von sich zu entäußern für Jesus, der sich aller Dinge entäußert hat; über seinen Mut, sich von dem zu befreien, was an die Zeichen der Macht erinnern kann, um der Macht der Zeichen Raum zu geben.[9] Don Tonino tat dies gewiss nicht, um Vorteile oder Akzeptanz zu erlangen, sondern bewegt vom Vorbild des Herrn. In der Liebe zu ihm finden wir die Kraft, die Kleider abzulegen, die den Schritt hemmen, um das Dienen anzulegen und eine »Kirche mit Schürze, dem einzigen im Evangelium verzeichneten priesterlichen Gewand «[10], zu sein.
Was könnte uns Don Tonino aus seiner geliebten Heimat noch sagen? Dieser Gläubige mit den Füßen auf der Erde und den zum Himmel gerichteten Augen, und vor allem mit einem Herzen, das Himmel und Erde verband, hat unter vielen anderen ein ureigenes Wort geprägt, das jedem von uns eine große Sendung überträgt. Er sagte gern, dass wir Christen »›Kontempl-Aktive‹ sein müssen, mit ›ak‹, also Menschen, die von der Kontemplation ausgehen und dann ihre Dynamik, ihren Einsatz in die Aktion einmünden lassen «[11]: Menschen, die Gebet und Handeln nie voneinander trennen. Lieber Don Tonino, du hast uns davor gewarnt, in den Strudel der Ereignisse einzutauchen, ohne vor dem Tabernakel zu verharren, um nicht der Täuschung zu erliegen, vergeblich für das Reich Gottes zu arbeiten.[12]Und wir könnten uns fragen, ob wir vom Tabernakel oder von uns selbst ausgehen. Du könntest uns auch fragen, ob wir, wenn wir einmal aufgebrochen sind, unterwegs sind; ob wir wie Maria, die Frau vom Wege, uns aufmachen, um den Menschen, jeden Menschen zu erreichen und ihm zu dienen. Wenn du es uns fragen würdest, dann müssten wir Scham empfinden über unsere Unbeweglichkeit und unsere ständigen Rechtfertigungen. Erwecke in uns daher wieder unsere hohe Berufung; hilf uns, immer mehr eine »kontempl-aktive« Kirche zu sein, verliebt in Gott und voll Leidenschaft für den Menschen!
Liebe Brüder und Schwestern, zu jeder Zeit stellt Gott auf den Weg der Kirche Zeugen, die die frohe Botschaft von Ostern verkörpern, Propheten der Hoffnung für die Zukunft aller. Aus eurer Region hat Gott einen von ihnen hervorgehen lassen, als Geschenk und Prophezeiung für unsere Zeit. Und Gott will, dass sein Geschenk angenommen wird, dass seine Prophezeiung umgesetzt wird. Begnügen wir uns nicht damit, schöne Erinnerungen aufzuschreiben, lassen wir uns nicht zügeln durch Sehnsüchte nach der Vergangenheit und auch nicht durch müßiges Geschwätz der Gegenwart oder Ängste im Hinblick auf die Zukunft. Ahmen wir Don Tonino nach, lassen wir uns mitreißen von seinem jugendlichen christlichen Eifer, hören wir auf seine dringende Einladung, das Evangelium ohne Abstriche zu leben.
Es ist eine nachdrückliche Einladung, die an einen jeden von uns und an uns als Kirche gerichtet ist. Sie wird uns wirklich helfen, heute die wohlriechende Freude des Evangeliums zu verbreiten. Jetzt beten wir alle gemeinsam zur Gottesmutter, und dann erteile ich euch den Segen, einverstanden?
[Ave Maria und Segen]
[1] »Grazie, Chiesa di Alessano«, La terra dei miei sogni. Bagliori di luce dagli scritti ugentini, 2014, 477.
[2] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag, 1. Januar 1993.
[3] La terra dei miei sogni, 32.
[4] »Il pentalogo della speranza«, Scritti vari, interviste aggiunte, 2007, 252.
[5] »La speranza a caro prezzo», Scritti di pace, 1997, 348.
[6] Vgl. »La profezia oltre la mafia«, ebd., 280.
[7] »Torchio e spirito. Omelia per la Messa crismale 1993«, Omelie e scritti quaresimali, 2015, 97.
[8] »Sacerdoti per il mondo«, Cirenei della gioia, 2004, 26.
[9] Vgl. »Dai poveri verso tutti«, ebd., 122ff.
[10]»Configurati a Cristo capo e sacerdote«, ebd., 61.
[11]Ebd., 55
[12] Vgl. »Contempl-attivi nella ferialità quotidiana «, Non c’è fedeltà senza rischio, 2000, 124; »Soffrire le cose di Dio e soffrire le cose dell’uomo «, Cirenei della gioia, 81-82.
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