ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN EINE DELEGATION DER INTERNATIONALEN
STRAFRECHTSGESELLSCHAFT (AIDP)
Saal der Päpste
Donnerstag, 23. Oktober 2014
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich begrüße Sie alle sehr herzlich und möchte Ihnen meinen persönlichen Dank zum Ausdruck bringen für Ihren Dienst an der Gesellschaft und für Ihren wertvollen Beitrag zur Entwicklung einer Justiz, die die Würde und die Rechte der menschlichen Person achtet, ohne Diskriminierungen. Ich möchte einige Überlegungen zu bestimmten Fragen mit Ihnen teilen, die zwar teilweise diskutierbar sind – teilweise! –, die Würde der menschlichen Person jedoch unmittelbar betreffen und daher an die Kirche in ihrer Sendung zur Evangelisierung, zur Förderung des Menschen, zum Dienst an Gerechtigkeit und Frieden appellieren.
Ich werde dies zusammenfassend und in Kapitel unterteilt tun, in einem eher knapp darlegenden und schematischen Stil.
Einleitung
Zunächst möchte ich zwei Vorbemerkungen soziologischer Natur machen, die die Anstiftung zur Rache und den Strafrechtspopulismus betreffen.
a) Anstiftung zur Rache
In der Mythologie sowie in den primitiven Gesellschaften entdeckt die Menge die unheilbringenden Kräfte ihrer Todesopfer, die beschuldigt werden, das Unglück, das über die Gemeinschaft gekommen ist, herbeigeführt zu haben. Diese Dynamik gibt es auch in den modernen Gesellschaften. Die Wirklichkeit zeigt, dass das Vorhandensein von Rechtsmitteln und politischen Maßnahmen, die notwendig sind, um Konflikten zu begegnen und sie zu lösen, keine ausreichenden Garantien bietet, um zu vermeiden, dass einigen Individuen die Schuld an den Problemen aller zugewiesen wird.
Das gemeinsame Leben, das um organisierte Gemeinschaften herum strukturiert ist, braucht Regeln für das Zusammenleben, deren vorsätzliche Verletzung eine angemessene Antwort verlangt. Dennoch leben wir in Zeiten, in denen sowohl durch einige Sektoren der Politik als auch von Seiten einiger Kommunikationsmittel manchmal zu Gewalt und Rache – in öffentlicher oder in privater Form – angestiftet wird, nicht nur gegen jene, die für Verbrechen verantwortlich sind, sondern auch gegen jene, auf die der – begründete oder unbegründete – Verdacht fällt, das Gesetz übertreten zu haben.
b) Strafrechtspopulismus
In diesem Zusammenhang hat sich in den letzten Jahrzehnten die Überzeugung verbreitet, dass sich durch öffentliche Strafe die verschiedensten sozialen Probleme lösen lassen, so, als würde für die unterschiedlichsten Krankheiten dieselbe Medizin verabreicht. Es handelt sich nicht um Vertrauen in eine soziale Funktion, die traditionell der öffentlichen Strafe zuerkannt wird, sondern vielmehr um die Auffassung, dass durch eine solche Strafe jenes Wohl erlangt werden könne, das eigentlich die Umsetzung einer anderen Form der Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie eine Politik der gesellschaftlichen Integration erfordern würde.
Man sucht nicht nur nach Sündenböcken, die mit ihrer Freiheit und mit ihrem Leben für alle gesellschaftlichen Missstände bezahlen, wie es in den primitiven Gesellschaften üblich war. Vielmehr gibt es darüber hinaus zuweilen die Tendenz, absichtlich Feindbilder aufzubauen: Klischeegestalten, die all jene Merkmale in sich vereinen, die die Gesellschaft als bedrohlich wahrnimmt oder interpretiert. Dieselben Mechanismen, die zur Herausbildung dieser Bilder führen, haben seinerzeit die Verbreitung rassistischer Ideen gestattetet.
I. Strafvollzugssysteme außer Kontrolle und die Sendung der Juristen
Das Leitprinzip der »cautela in poenam«
Nach diesem Stand der Dinge geht der Strafvollzug über seine eigentliche sanktionierende Funktion hinaus und berührt den Bereich der Freiheiten und Rechte der Personen, vor allem der schwächeren, im Namen einer präventiven Zielsetzung, deren Wirksamkeit bisher nicht nachgewiesen werden konnte, nicht einmal für die schwersten Strafen, wie die Todesstrafe. Es besteht die Gefahr, nicht einmal die Verhältnismäßigkeit der Strafen zu wahren, die historisch die Skala der vom Staat geschützten Rechte widerspiegelt.
Nachgelassen hat auch die Auffassung vom Strafrecht als »ultima ratio«, von der Strafe als dem letzten Mittel, auf das zurückgegriffen wird und das auf schwerste Vergehen gegen die schützenswertesten individuellen und kollektiven Interessen begrenzt ist. Ebenso ist die Debatte über die Ersetzung der Gefängnisstrafe durch andere Strafmaßnahmen abgeflaut. In diesem Zusammenhang kann die Sendung der Juristen nur darin bestehen, diese Tendenzen zu beschränken und einzudämmen. Das ist eine schwierige Aufgabe in Zeiten, in denen viele Richter und Mitarbeiter des Strafvollzugs ihrer Aufgabe unter dem Druck der Massenkommunikationsmittel, einiger skrupelloser Politiker sowie des sich in die Gesellschaft einschleichenden Rachetriebs nachkommen müssen. Alle, die eine so große Verantwortung tragen, sind aufgefordert, ihre Pflicht zu erfüllen, da, wenn sie es nicht tun, das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird, für das mit größerem Einsatz Sorge getragen werden muss als dies zuweilen bei der Ausübung der eigenen Funktionen der Fall ist.
II. Über den Primat des Lebens und die Würde der menschlichen Person. »Primatus principii pro homine«
a) Über die Todesstrafe
Es ist unvorstellbar, dass die Staaten heute nicht über andere Mittel verfügen als die Todesstrafe, um das Leben anderer Menschen vor ungerechten Angreifern zu schützen. Der heilige Johannes Paul II. hat die Todesstrafe ebenso verurteilt (vgl. Enzyklika Evangelium vitae, 56) wie der Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 2267). Dennoch kann es vorkommen, dass die Staaten Leben nicht nur durch die Todesstrafe oder durch Kriege auslöschen, sondern auch dann, wenn öffentliche Amtsträger im Schatten der staatlichen Autoritäten Zuflucht suchen, um ihre Verbrechen zu rechtfertigen. Die sogenannten außergerichtlichen oder extralegalen Hinrichtungen sind vorsätzliche Morde, die von einigen Staaten und ihren Vertretern begangen werden; oft gehen sie als Auseinandersetzungen mit Verbrechern durch oder werden als unerwünschte Folgen des vernünftigen, notwendigen und angemessenen Gebrauchs von Gewalt zur Durchsetzung des Gesetzes dargestellt. Auf diese Weise wird die Todesstrafe – auch wenn von den 60 Ländern, in denen sie aufrechterhalten wird, 35 sie in den letzten zehn Jahren nicht angewandt haben – illegal in unterschiedlichem Ausmaß auf dem gesamten Planeten angewandt.
Dieselben außergerichtlichen Hinrichtungen werden in systematischer Form nicht nur von den Staaten der internationalen Gemeinschaft durchgeführt, sondern auch von Körperschaften, die nicht als solche anerkannt sind, und stellen echte Verbrechen dar. Es gibt zahlreiche wohlbekannte Argumente gegen die Todesstrafe. Die Kirche hat es für richtig befunden, einige davon hervorzuheben, wie die Möglichkeit eines Justizirrtums und den Gebrauch, den totalitäre und diktatorische Regime von ihr machen, die sie als Mittel zur Unterdrückung politischer Opposition oder zur Verfolgung religiöser und kultureller Minderheiten einsetzen; all ihre Opfer sind ihrer jeweiligen Gesetzgebung zufolge »Verbrecher«.
Alle Christen und Menschen guten Willens sind daher heute aufgerufen, nicht nur für die Abschaffung der Todesstrafe – ganz gleich, ob diese legal oder illegal ist – in allen ihren Formen, sondern auch für die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Gefängnissen zu kämpfen, unter Achtung der Menschenwürde der Personen, denen die Freiheit entzogen ist. Und dies verbinde ich mit der lebenslangen Freiheitsstrafe. Im Strafgesetzbuch des Vatikans ist die lebenslange Freiheitsstrafe seit Kurzem nicht mehr vorhanden. Die lebenslange Freiheitsstrafe ist eine versteckte Todesstrafe.
b) Über die Haftbedingungen, die Inhaftierten ohne Verurteilung und die Verurteilten ohne Urteil.
Das sind keine Märchen: Das wissen Sie sehr gut. Die Vorbeugehaft – wenn sie missbräuchlich dazu führt, die Strafe vor der Verurteilung vorauszunehmen, oder als Maßnahme, die angesichts eines mehr oder weniger begründeten Verdachts auf eine begangene Straftat angewandt wird – ist eine weitere gegenwärtige Form verborgener unrechtmäßiger Strafe, auch wenn sie einen Anstrich von Legalität besitzt.
Diese Situation ist besonders schwerwiegend in einigen Ländern und Regionen der Welt, wo die Zahl der Inhaftierten ohne Verurteilung über 50 Prozent der Gesamtzahl ausmacht. Dieses Phänomen trägt zu einer noch weiteren Verschlechterung der Haftbedingungen bei, und der Bau neuer Gefängnisse kann in dieser Situation niemals zu einer Lösung führen, da die Kapazität eines jeden neuen Gefängnisses bereits erschöpft ist, bevor es überhaupt eröffnet wird. Außerdem führt es zu einer unrechtmäßigen Verwendung von Polizei- oder Militärstationen als Orten der Inhaftierung.
Dem Problem der Inhaftierten ohne Verurteilung muss mit gebührender Umsicht begegnet werden, da man Gefahr läuft, ein weiteres Problem zu schaffen, das ebenso schwerwiegend ist wie das erste, wenn nicht sogar noch schlimmer: das Problem der Gefangenen ohne Urteil, die ohne Beachtung der Verfahrensregeln verurteilt wurden.
Die erbärmlichen Haftbedingungen, die in einigen Teilen der Welt herrschen, stellen oft eine wirklich unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar, oftmals hervorgerufen von Mängeln im Strafvollzug oder vom Mangel an Infrastruktur und Planung. In nicht wenigen Fällen sind sie auch nichts anderes als das Ergebnis willkürlicher und gnadenloser Machtausübung über Menschen, die ihrer Freiheit beraubt wurden.
c) Über die Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Maßnahmen und Strafen
Das Adjektiv »grausam«; dem von mir Erwähnten liegt stets diese Wurzel zugrunde: die menschliche Fähigkeit zur Grausamkeit. Das ist ein Leiden, ein wahres Leiden! Eine Form der Folter ist jene, die zuweilen durch die Inhaftierung in Hochsicherheitsgefängnissen angewandt wird. Mit der Begründung, der Gesellschaft größere Sicherheit oder gewissen Kategorien von Häftlingen eine besondere Behandlung zu bieten, besteht ihr Hauptmerkmal in nichts anderem als der Isolierung von der Außenwelt. Wie die von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen durchgeführten Studien belegen, rufen fehlende Sinnesreize, die völlige Unmöglichkeit der Kommunikation und das Fehlen von Kontakten zu anderen Menschen psychische und physische Leiden hervor, wie Paranoia, Angstzustände, Depression und Gewichtsverlust, und lassen die Neigung zum Selbstmord spürbar steigen.
Dieses Phänomen, das für die Hochsicherheitsgefängnisse kennzeichnend ist, tritt auch in anderen Arten von Justizvollzugsanstalten auf, zusammen mit anderen Formen physischer und psychischer Folter, deren Anwendung verbreitet ist. Die Folter wird nicht mehr nur als Mittel angewandt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wie ein Geständnis oder die Denunziation – Praktiken, die für die Doktrin der nationalen Sicherheit kennzeichnend sind –, sondern sie stellen einen echten zusätzlichen Schmerz dar, der zu den Übeln, die die Inhaftierung mit sich bringt, noch hinzukommt. Auf diese Weise wird nicht nur in geheimen Internierungs- oder modernen Konzentrationslagern gefoltert, sondern auch in Gefängnissen, Jugendstrafanstalten, psychiatrischen Kliniken, Kommissariaten und anderen Strafanstalten.
Die Strafrechtslehre trägt in diesem Rahmen eine wichtige Verantwortung, da sie die Legitimierung der Folter in bestimmten Fällen unter bestimmten Voraussetzungen gestattet und so den Weg zu weiterem und noch größerem Missbrauch geöffnet hat. Viele Staaten sind auch dafür verantwortlich, die Entführung von Menschen im eigenen Staatsgebiet – auch ihrer eigenen Staatsbürger – durchgeführt oder toleriert zu haben oder die Nutzung ihres Luftraums für einen illegalen Transport zu Gefangenenzentren, in denen die Folter angewandt wird, gestattet zu haben.
Diesem Missbrauch kann nur durch die entschlossene Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft auf Anerkennung des Primats des Prinzips »pro homine«, das heißt der alles übersteigenden Würde des Menschen, Einhalt geboten werden.
d) Über die Anwendung von Strafmaßnahmen bei Kindern und alten Menschen sowie gegenüber besonders schwachen Personen
Die Staaten müssen davon Abstand nehmen, Kinder, die ihre Entwicklung zur Reife noch nicht vollendet haben und aus diesem Grund nicht strafmündig sein können, zu bestrafen. Vielmehr müssen diese die Empfänger all jener Privilegien sein, die der Staat anbieten kann, sowohl in Bezug auf Integrationsmaßnahmen als auch Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, die Achtung des Lebens und der Rechte der Anderen in ihnen wachsen zu lassen.
Die alten Menschen ihrerseits können von ihren eigenen Fehlern ausgehend die übrige Gesellschaft etwas lehren. Man lernt nicht nur aus der Tugend der Heiligen, sondern auch aus den Verfehlungen und Fehlern der Sünder und darunter jener, die aus irgendeinem Grund gefallen sind und Verbrechen begangen haben. Außerdem verdienen Erwachsene fortgeschrittenen Alters aus humanitären Gründen eine besondere Behandlung, ebenso wie schwer kranke oder todkranke Menschen, schwangere Frauen, behinderte Personen sowie Mütter und Väter, die für Minderjährige oder Behinderte die alleinige Verantwortung tragen, von der Bestrafung ausgeschlossen sein müssen oder ihr Strafmaß gemindert werden muss."
III. Überlegungen zu einigen Formen der Kriminalität, die der Würde der Person und dem Gemeinwohl schweren Schaden zufügen
Einige Formen der Kriminalität, die von Privatleuten begangen werden, fügen der Würde der Personen und dem Gemeinwohl schweren Schaden zu. Viele dieser Formen von Kriminalität könnten nie begangen werden ohne die Mittäterschaft – in aktiver Form oder in Form der Unterlassung – der öffentlichen Autoritäten.
a) Über das Verbrechen des Menschenhandels
Die Sklaverei, einschließlich des Menschenhandels, ist sowohl vom internationalen Recht als auch von vielen nationalen Gesetzgebungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen anerkannt. Sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und da es nicht möglich ist, ein so komplexes Verbrechen wie den Menschenhandel ohne Mittäterschaft, durch aktives Handeln oder Unterlassung, von Seiten der Staaten zu begehen, ist klar und deutlich, dass, wenn die Bemühungen zur Vorbeugung und Bekämpfung dieses Phänomens nicht ausreichend sind, wir erneut einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüberstehen. Mehr noch: Wenn jene, die dafür zuständig sind, die Personen zu schützen und ihre Freiheit zu gewährleisten, zu Mittätern derer werden, die Menschenhandel betreiben, dann sind die Staaten in diesen Fällen haftbar gegenüber ihren Bürgern und der internationalen Gemeinschaft.
Man kann sagen, dass eine Milliarde Menschen in absoluter Armut gefangen sind. Anderthalb Milliarden haben keinen Zugang zu sanitären Anlagen, Trinkwasser, Elektrizität, Grundschulbildung oder dem Gesundheitssystem und müssen wirtschaftliche Entbehrungen ertragen, die mit einem menschenwürdigen Leben unvereinbar sind (Weltentwicklungsbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNPD) 2014). Auch wenn die Zahl der Menschen, die sich in dieser Lage befinden, in den letzten Jahren abgenommen hat, so hat ihre Schutzlosigkeit zugenommen, da es für sie immer schwerer wird, aus dieser Lage herauszukommen. Grund dafür ist die stetig wachsende Menge von Personen, die in Kriegsgebieten leben. Allein im Jahr 2012 waren 45 Millionen Menschen gezwungen, vor Gewalt oder Verfolgung zu fliehen; 15 Millionen davon sind Asylanten, die höchste Zahl seit 18 Jahren. 70 Prozent dieser Personen sind Frauen. Außerdem wird geschätzt, dass sieben von zehn Menschen in der Welt, die an Hunger sterben, Frauen und Kinder sind (Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen, UNIFEM).
b) Über das Verbrechen der Korruption
Die skandalöse Konzentration des globalen Reichtums wird ermöglicht durch das Einvernehmen der staatlicher Verantwortungsträger mit den Mächtigen. Die Korruption selbst ist auch ein tödlicher Prozess: Wenn das Leben stirbt, herrscht Verwesung [Das ital. Wort »corruzione« kann sowohl Korruption als auch Verwesung bedeuten]. Kaum etwas ist schwieriger, als in ein korruptes Herz eine Bresche zu schlagen: »So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist« (Lk 12,21). Wenn die persönliche Situation des Korrupten schwierig wird, kennt er alle möglichen Auswege, um sich ihr zu entziehen, wie der unehrliche Verwalter im Evangelium (vgl. Lk 16,1-8).
Der Korrupte nimmt im Leben die Abkürzungen des Opportunismus, mit einer Miene, die sagt: »Das war ich nicht«, und schließlich verinnerlicht er seine Maske des ehrenhaften Menschen. Es ist ein Prozess der Verinnerlichung. Der Korrupte kann keine Kritik annehmen. Er wertet alle ab, die sie vornehmen, und er versucht, jede moralische Autorität, die ihn infrage stellen kann, abzuwerten. Er erkennt den Wert der anderen nicht an und greift mit der Beleidigung alle an, die anders denken. Wenn die Kräfteverhältnisse es zulassen, verfolgt er jeden, der ihm widerspricht.
Die Korruption kommt in einer Atmosphäre des Triumphalismus zum Ausdruck, denn der Korrupte versteht sich als Gewinner. In diesem Umfeld brüstet er sich, um die anderen abzuwerten. Der Korrupte kennt keine Brüderlichkeit oder Freundschaft, sondern nur Komplizenschaft und Feindschaft. Der Korrupte nimmt seine Korruption nicht wahr. Es ist ein wenig wie mit Mundgeruch: Wer ihn hat, bemerkt ihn kaum; die anderen bemerken es und müssen es ihm sagen. Aus diesem Grund kann der Korrupte nur schwer durch innere Gewissensbisse aus seinem Zustand herauskommen.
Die Korruption ist ein größeres Übel als die Sünde. Dieses Übel muss eher geheilt als vergeben werden. Die Korruption ist normal geworden; sie stellt mittlerweile sogar schon einen persönlichen und gesellschaftlichen Zustand dar, der Brauch und Sitte geworden ist, eine übliche Vorgehensweise bei Handels- und Finanzgeschäften, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, bei allen Verhandlungen, an denen Staatsvertreter beteiligt sind. Es ist der Sieg des Scheins über die Wirklichkeit und der schamlosen Dreistigkeit über die ehrenhafte Zurückhaltung. Dennoch wird der Herr nicht müde, an die Türen der Korrupten zu klopfen. Die Korruption kann nichts gegen die Hoffnung ausrichten.
Was kann das Strafrecht gegen die Korruption tun? Es gibt bereits viele internationale Vereinbarungen und Abkommen in diesem Bereich, und die Straftatbestände, die darauf abzielen, nicht so sehr die Bürger, die letztlich die eigentlichen Opfer sind – insbesondere die Schwächsten –, sondern die Interessen der Mitarbeiter der Wirtschafts- und Finanzmärkte zu schützen, haben stark zugenommen.
Der Strafvollzug ist selektiv. Er gleicht einem Netz, das nur die kleinen Fische fängt und die großen frei im Meer lässt. Die Formen der Korruption, die mit größter Strenge verfolgt werden müssen, sind jene, die schwere soziale Schäden anrichten, sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Bereich – wie zum Beispiel schwerwiegender Betrug gegenüber der öffentlichen Verwaltung oder unlautere Handhabung der Verwaltung – wie bei jeder Art von Hindernis, das der Justiz in den Weg gelegt wird in der Absicht, Straffreiheit für eigene Vergehen oder die Dritter zu erlangen.
Schluss
Umsicht bei der Strafverhängung muss der Grundsatz sein, der den Strafvollzug trägt, und die volle Gültigkeit und Durchführung des Prinzips »pro homine« soll garantieren, dass die Staaten – rechtlich oder faktisch – nicht befähigt werden, die Achtung der Würde des Menschen irgendeinem anderen Ziel unterzuordnen, auch wenn daraus irgendeine Art von sozialem Nutzen erwachsen sollte. Die Achtung der Menschenwürde soll nicht nur zur Beschränkung von Willkür und Maßlosigkeit von Seiten der Staatsvertreter dienen, sondern als Orientierungsmaßstab zur Verfolgung und Ausmerzung jener Verhaltensweisen, die schwerste Angriffe auf die Würde und die Unversehrtheit der menschlichen Person darstellen.
Liebe Freunde, ich danke Ihnen erneut für diese Begegnung, und ich versichere Ihnen, dass ich auch weiterhin Ihrer anspruchsvollen Arbeit im Dienst des Menschen im Bereich der Justiz nahe sein werde. Zweifellos ist dies für jene unter Ihnen, die berufen sind, die christliche Berufung der eigenen Taufe zu leben, ein wichtiger Bereich, um die Welt mit dem Evangelium zu beseelen.
Alle, auch jene unter Ihnen, die keine Christen sind, brauchen in jedem Fall die Hilfe Gottes, Quelle jeder Vernunft und Gerechtigkeit. Ich rufe daher auf einen jeden von Ihnen auf die Fürsprache der Jungfrau Maria das Licht und die Kraft des Heiligen Geistes herab. Ich segne Sie von Herzen, und ich bitte Sie, für mich zu beten. Danke.
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