ASCHLUSSSITZUNG DES KONGRESSES ZUR VOLKSFRÖMMIGKEIT IM MITTELMEERRAUM
ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS
“Palais des Congrès et d’Exposition d’Ajaccio”
Sonntag, 15. Dezember 2024
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Herr Kardinal,
liebe Mitbrüder im Bischofsamt,
liebe Priester und Ordensleute,
liebe Schwestern und liebe Brüder!
ich freue mich, euch hier in Ajaccio zum Abschluss des Kongresses über Volksfrömmigkeit im Mittelmeerraum zu begegnen, an dem zahlreiche Wissenschaftler und Bischöfe aus Frankreich und anderen Ländern teilgenommen haben.
Die Gebiete, die am Mittelmeer liegen, sind in die Geschichte eingegangen und sie sind die Wiege zahlreicher Zivilisationen gewesen, die einen beachtlichen Entwicklungsgrad erreicht haben. Denken wir insbesondere an die griechisch-römische und die jüdisch-christliche Zivilisation, die von der kulturellen, religiösen und historischen Bedeutung dieses großen „Sees“ in der Mitte dreier Kontinente zeugen, dieses einzigartigen Meeres, das das Mittelmeer ist.
Wir dürfen nicht vergessen, dass das Mittelmeer in der klassischen Literatur, der griechischen wie der lateinischen, vielfach der ideale Schauplatz für die Entstehung von Mythen, Erzählungen und Legenden war. Ebenso wie die Tatsache, dass das philosophische Denken und die Künste, zusammen mit den Techniken der Seefahrt, die Zivilisationen des Mare nostrum in die Lage versetzten, eine hochstehende Kultur zu entwickeln, Kommunikationswege zu erschließen, Infrastrukturen und Aquädukte und mehr noch, Rechtssysteme und Institutionen von beachtlicher Komplexität aufzubauen, deren Grundprinzipien auch heute noch gültig und aktuell sind.
Zwischen dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten hat eine ganz besondere religiöse Erfahrung ihren Ursprung, die mit dem Gott Israels verbunden ist, der sich den Menschen offenbart und einen unaufhörlichen Dialog mit seinem Volk begonnen hat, der seinen Höhepunkt in der einzigartigen Gegenwart Jesu, des Sohnes Gottes, findet. Er ist es, der das Antlitz des Vaters, seines und unseres Vaters, in endgültiger Weise offenbart hat und der den Bund zwischen Gott und der Menschheit zur Vollendung geführt hat.
Seit der Menschwerdung des Gottessohnes sind mehr als zweitausend Jahre vergangen und viele verschiedene Epochen und Kulturen sind seitdem aufeinander gefolgt. Während einiger Momente der Geschichte hat der christliche Glaube das Leben der Völker und deren politische Institutionen geprägt, während heute, besonders in den europäischen Ländern, die Frage nach Gott zu verklingen scheint und man seiner Gegenwart und seinem Wort immer gleichgültiger gegenübersteht. Bei der Analyse dieser Lage müssen wir jedoch vorsichtig sein, um nicht voreiligen Betrachtungen und ideologischen Urteilen zu verfallen, die manchmal heute noch die christliche Kultur und die säkulare Kultur einander entgegensetzen. Dies ist ein Fehler!
Es ist im Gegenteil wichtig, eine gegenseitige Offenheit zwischen diesen beiden Horizonten zu erkennen: die Gläubigen öffnen sich zunehmend gelassen für die Möglichkeit, ihren Glauben zu leben, ohne ihn anderen aufzudrängen, ihn wie einen Sauerteig im Teig der Welt und des Umfeldes, in dem sie sich befinden, zu leben. Und den Nichtgläubigen oder Menschen, die sich von der religiösen Praxis distanziert haben, ist die Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht fremd, und oft haben sie, auch wenn sie keiner Religion angehören, in ihrem Herzen ein größeres Verlangen, eine Sehnsucht nach Sinn, die sie dazu führt, nach dem Geheimnis des Lebens zu fragen und nach grundlegenden Werten für das Gemeinwohl zu suchen.
Genau in diesem Rahmen können wir die Schönheit und Bedeutung der Volksfrömmigkeit begreifen (vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii Nuntiandi, 48). Es war der heilige Paul VI., der „diese Bezeichnung geändert hat“. In Evangelii nuntiandi wechselt er von „Volksreligiosität“ zu „Volksfrömmigkeit“ verändert wird. Einerseits erinnert sie uns an die Inkarnation als Grundlage des christlichen Glaubens, der immer in der Kultur, der Geschichte und den Sprachen eines Volkes zum Ausdruck kommt und durch die Symbole, Bräuche, Riten und Traditionen einer lebendigen Gemeinschaft weitergegeben wird. Andererseits zieht die Praxis der Volksfrömmigkeit auch Menschen an und bezieht sie mit ein, die an der Schwelle zum Glauben stehen, die ihn nicht eifrig praktizieren und in ihm dennoch die eigenen Wurzeln und Neigungen sowie Ideale und Werte erleben, die sie für ihr eigenes Leben und für die Gesellschaft für nützlich halten.
Indem sie den Glauben mit einfachen Gesten und symbolischen Sprachformen zum Ausdruck bringt, die in der Kultur des Volkes verwurzelt sind, offenbart die Volksfrömmigkeit die Gegenwart Gottes im lebendigen Fleisch der Geschichte. Sie stärkt die Beziehung zur Kirche und wird oft zu einem Anlass zur Begegnung, zum kulturellen Austausch und zum Feiern. Es ist merkwürdig: eine Frömmigkeit, die nicht festlich ist, „riecht nicht gut“, das ist keine Frömmigkeit, die aus dem Volk kommt, sie ist zu “destilliert“. In diesem Sinne verleihen ihre Praktiken der Beziehung zum Herrn und den Inhalten des Glaubens Gestalt und ermöglichen, dass dieser im Leben und in der Geschichte wirklich Fleisch annimmt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang gerne an eine Überlegung von Blaise Pascal, der in einem Dialog mit einem fiktiven Gesprächspartner – um diesem verstehen zu helfen, wie man zum Glauben kommt – sagt, dass es nicht genügt, die Beweise für die Existenz Gottes zu vervielfachen oder intellektuelle Anstrengungen zu unternehmen; vielmehr müssen wir auf diejenigen blicken, die auf dem Weg schon weiter vorangeschritten sind, weil sie mit kleinen Schritten angefangen haben, „indem sie Weihwasser nahmen und Messen lesen ließen“ (Pensieri, in Opere complete, Mailand 2020, Nr. 681). Die kleinen Schritte, die einen weiterbringen. Die Volksfrömmigkeit ist eine Frömmigkeit, die mit der Kultur zu tun hat, aber nicht mit der Kultur zu verwechseln ist. Und sie macht kleine Schritte.
Dies ist also etwas, das wir nicht vergessen dürfen: „In der Volksfrömmigkeit kann man die Weise erfassen, in der der empfangene Glaube in einer Kultur Gestalt angenommen hat und ständig weitergegeben wird“, und daher „ist in ihr eine aktiv evangelisierende Kraft eingeschlossen, die wir nicht unterschätzen dürfen; anderenfalls würden wir die Wirkung des Heiligen Geistes verkennen“ (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 123; 126), der im heiligen Volk Gottes wirkt und es in den täglichen Unterscheidungen weiterbringt. Denken wir an den armen Diakon Philippus, der eines Tages [vom Geist] auf eine Straße geführt wurde und hörte, wie ein Heide, ein Diener der Königin Kandake von Äthiopien, den Propheten Jesaja las und nichts verstand. Er sprach ihn an: „Verstehst du?“ - „Nein.“ Und er verkündete ihm das Evangelium. Und als der Mann, der in diesem Moment zum Glauben gekommen war, an eine Stelle kam, wo es Wasser gab, sagte er: „Sag mir Philippus, kannst du mich taufen, jetzt, hier, wo es Wasser gibt?“ Da sagte Philippus nicht: „Nein, er muss erst noch den Kurs machen, er muss die Paten mitbringen, die beide kirchlich verheiratet sind, er muss das machen...“. Nein, er hat ihn getauft. Die Taufe ist eben das Geschenk des Glaubens, das Jesus uns gibt.
Wir müssen achtgeben, dass die Volksfrömmigkeit nicht von Gruppierungen genutzt und instrumentalisiert wird, die ihre eigene Identität auf polemische Weise stärken wollen, indem sie Partikularismen, Entgegensetzung und ausgrenzende Haltungen fördern. All dies entspricht nicht dem christlichen Geist der Volksfrömmigkeit und verlangt von allen, insbesondere aber von den Seelsorgern, Wachsamkeit, Unterscheidung und die Förderung einer kontinuierlichen Aufmerksamkeit für die volkstümlichen Formen des religiösen Lebens.
Wenn es der Volksfrömmigkeit gelingt, den christlichen Glauben und die kulturellen Werte eines Volkes zu vermitteln, indem sie die Herzen vereint und zu einer Gemeinschaft zusammenschließt, dann geht daraus eine wichtige Frucht hervor, die auf die Gesellschaft als Ganzes und auch auf die Beziehungen zwischen den politischen, sozialen und zivilen Institutionen und der Kirche zurückwirkt. Der Glaube bleibt keine private Angelegenheit – wir müssen auf diese, ich würde sagen, häretische Entwicklung der Privatisierung des Glaubens achten; die Herzen verbinden sich und machen weiter... –, etwas, das sich im Heiligtum des Gewissens erschöpft, sondern er geht – wenn er sich selbst ganz treu sein will – mit einem Engagement und einem öffentlichen Zeugnis einher: für menschliches Wachstum, sozialen Fortschritt und Sorge für die Schöpfung, im Zeichen der Liebe. Gerade deshalb sind aus dem christlichen Glaubensbekenntnis und dem durch das Evangelium und die Sakramente belebten Glaubensleben im Laufe der Jahrhunderte zahllose Hilfswerke und Einrichtungen entstanden, wie Krankenhäuser, Schulen, Pflegezentren – in Frankreich sind es viele! –, in denen sich die Gläubigen für die Bedürftigen eingesetzt und zum Wachstum des Gemeinwohls beigetragen haben. Volksfrömmigkeit, Prozessionen und Bittgänge, karitative Aktivitäten von Bruderschaften, das gemeinsame Gebet des Rosenkranzes und andere Frömmigkeitsformen können diese – ich erlaube mir zu sagen – „konstruktive Bürgerschaft“ der Christen nähren. Die Volksfrömmigkeit macht dich zu einem „konstruktiven Bürger“.
Manchmal verstehen einige Intellektuelle und Theologen das nicht. Ich erinnere mich, dass ich einmal für eine Woche in den Norden Argentiniens gefahren bin, nach Salta, wo das Fest des Señor de los Milagros, des Herrn der Wunder, gefeiert wird. Die ganze Provinz strömt zum Heiligtum und alle gehen zur Beichte, vom Bürgermeister bis hin zu allen anderen, weil sie diese Frömmigkeit in sich tragen. Ich bin immer zum Beichtehören hingefahren, und das war eine harte Arbeit, denn alle Leute beichten. Und eines Tages, auf dem Weg nach draußen, traf ich einen Priester, den ich kannte: „Oh, du bist hier, wie geht es dir?“ - „Gut!“... Und als wir gerade gehen wollten, kam in diesem Moment eine Frau mit einigen Heiligenbildchen in der Hand auf uns zu und sagte zu dem Priester, einem guten Theologen: „Padre, würden Sie sie segnen?“ Der Priester, ein bedeutender Theologe, sagt zu ihr: „Aber, liebe Frau, waren Sie denn in der Messe?“ - „Ja, Padrecito“ - „Und Sie wissen, dass am Ende der Messe alles gesegnet wird?“ - „Ja, Padrecito“ - „Und wissen Sie, dass der Segen Gottes von Ihnen kommt?“ - „Ja, Padrecito“. In diesem Moment rief ihm ein anderer Priester zu: „Oh, wie geht es dir?“ Und die Frau, die so oft „Ja, Padrecito“ gesagt hatte, wandte sich an ihn: „Vater, segnen Sie sie mir?“. Es gibt eine Komplizenschaft, eine gesunde Komplizenschaft, die nach dem Segen des Herrn sucht und keine Verallgemeinerungen akzeptiert.
Zugleich können die Gläubigen auf dem gemeinsamen Boden eben dieser Entschlossenheit, das Gute zu tun, einen Segen zu erbitten, auf einem gemeinsamen Weg auch mit den säkularen Institutionen – zivilen und politischen – zusammenfinden, um sich gemeinsam im Dienste aller, angefangen bei den Letzten, für ein ganzheitliches menschliches Wachstum einzusetzen und für die Bewahrung dieser „Île de beauté”.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ein Konzept von Säkularität zu entwickeln, das nicht statisch und steif ist, sondern entwicklungsfähig, dynamisch, das in der Lage ist, sich an unterschiedliche oder unvorhergesehene Situationen anzupassen und eine beständige Zusammenarbeit zwischen zivilen und kirchlichen Instanzen zum Wohle aller zu fördern, wobei ein jeder im Rahmen der eigenen Zuständigkeiten und des eigenen Bereichs bleibt. Benedikt XVI. hat gesagt: Gesunde Säkularität bedeutet, „den Glauben von der Last der Politik zu befreien und die Politik durch die Beiträge des Glaubens zu bereichern. Dabei sind der nötige Abstand, die klare Unterscheidung und die unentbehrliche Zusammenarbeit zwischen beiden zu wahren. [...] Eine solche gesunde Laizität garantiert der Politik zu handeln, ohne die Religion für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, und der Religion, frei zu leben, ohne sich mit der politischen Wirklichkeit zu belasten, die von Interessen geleitet ist und sich manchmal mit dem Glauben nur schwer oder sogar überhaupt nicht vereinbaren lässt. Das ist der Grund, warum die gesunde Laizität (Einheit in der Unterscheidung) für beide Teile nötig und sogar unverzichtbar ist.“ (Apostolisches Schreiben Ecclesia in Medio Oriente, 29). So Benedikt XVI.: eine gesunde Laizität, aber neben einer Religiosität. Die jeweiligen Bereiche werden berücksichtigt.
Auf diese Weise können mehr Kräfte und mehr Synergien freigesetzt werden, ohne Vorurteile und ohne grundsätzliche Widerstände, in einem offenen, ehrlichen und fruchtbaren Dialog.
Liebe Schwestern und Brüder, die Volksfrömmigkeit, die hier auf Korsika sehr tief verwurzelt ist – und nicht Aberglaube ist –, lässt die Werte des Glaubens hervortreten und bringt zugleich die Gestalt, die Geschichte und die Kultur der Völker zum Ausdruck. In dieser Verflochtenheit – ohne Vermischung – nimmt der beständige Dialog zwischen dem religiösen und dem säkularen Bereich, zwischen der Kirche und den zivilen und politischen Institutionen, Gestalt an. In dieser Frage seid ihr schon lange unterwegs, es ist eine Tradition bei euch, und ihr seid ein virtuoses Beispiel in Europa. Macht weiter so! Und ich möchte die jungen Menschen ermutigen, sich noch aktiver in das soziokulturelle und politische Leben einzubringen, mit dem Elan der besten Ideale und mit Leidenschaft für das Gemeinwohl. Ebenso rufe ich die Seelsorger und die Gläubigen, die Politiker und diejenigen, die öffentliche Verantwortung tragen, auf, den Menschen immer nahe zu sein, indem sie auf ihre Bedürfnisse hören, ihre Leiden begreifen und ihre Hoffnungen recht verstehen, denn alle Autorität wächst nur in Beziehung. Die Hirten müssen diese Nähe haben: Nähe zu Gott, Nähe zu den anderen Hirten, Nähe zu den Priestern, Nähe zu den Menschen, die auf diese Weise nahe sind. Das sind die wahren Hirten. Aber der Hirte, der diese Nähe nicht hat, auch nicht zur Geschichte und Kultur, ist einfach „Monsieur l'Abbé“. Er ist kein Hirte. Wir müssen zwischen diesen beiden Arten der Pastoral unterscheiden.
Ich hoffe, dass dieser Kongress über die Volksfrömmigkeit euch hilft, die Wurzeln eures Glaubens neu zu entdecken und dass er euch zu neuem Engagement in der Kirche und der Zivilgesellschaft anspornt, das dem Evangelium und dem Gemeinwohl aller Bürger dient.
Möge Maria, die Mutter der Kirche, euch auf eurem Weg begleiten und beistehen. Vielen Dank!
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