BESUCH VON PAPST FRANZISKUS IN VENEDIG
BEGEGNUNG MIT DEN WEIBLICHEN HÄFTLINGEN
ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
Innenplatz des Frauengefängnisses auf der Giudecca-Insel (Venedig)
5. Sonntag der Osterzeit, 28. April 2024
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Liebe Schwestern, liebe Brüder!
Wir sind alle Geschwister, alle, und keiner darf den anderen verleugnen, keiner!
Ich grüße euch alle sehr herzlich, vor allem aber euch, liebe Schwestern, Insassinnen des Frauengefängnisses auf der Giudecca-Insel. Ich wollte euch zu Beginn meines Besuchs in Venedig treffen, um euch zu sagen, dass ihr einen besonderen Platz in meinem Herzen habt.
Deshalb möchte ich auch, dass wir diesen Moment nicht so sehr als einen »offiziellen Besuch« erleben, sondern als eine Begegnung, bei der wir einander durch Gottes Gnade Zeit, Gebet, Nähe und geschwisterliche Zuneigung schenken. Wenn wir heute diesen Innenhof verlassen, werden wir uns alle bereichert fühlen – ich selbst vielleicht am allermeisten –, und das Gute, das wir austauschen werden, wird etwas Wertvolles sein.
Der Herr hat gewollt, dass wir in diesem Augenblick an diesem Ort zusammenkommen, an den wir auf unterschiedlichen Wegen gelangt sind, zum Teil auf sehr schmerzhaften Wegen, auch aufgrund von Fehlern, die jedem auf unterschiedliche Weise Wunden und Narben zugefügt haben. Jeder trägt Wunden und Narben. Jeder trägt solche Narben. Und Gott will, dass wir zusammen sind, weil er weiß, dass jeder von uns hier und heute etwas Einzigartiges geben und empfangen kann und dass wir alle dies brauchen. Jeder von uns ist einzigartig, jeder hat eine Gabe, und diese ist dazu da, dass er sie verschenkt, dass er sie mit anderen teilt.
Das Gefängnis ist eine harte Realität, wo Probleme wie Überbelegung, fehlende Strukturen, Ressourcen-Mangel und Gewalttaten viel Leid verursachen. Es kann aber auch zu einem Ort der Neugeburt werden, der moralischen und materiellen Neugeburt, an dem die Würde von Frauen und Männern nicht »in Isolationshaft« genommen, sondern hochgehalten wird durch gegenseitigen Respekt und die Förderung von Talenten und Fähigkeiten, die vielleicht noch in euch schlummern, aber durch die Wechselfälle des Lebens unterdrückt wurden, die jedoch zum Wohle aller wieder zum Vorschein kommen können und Aufmerksamkeit und Vertrauen verdienen. Niemand darf einem Menschen seine Würde nehmen, niemand!
Und dann kann ein Gefängnisaufenthalt paradoxerweise den Beginn von etwas Neuem bedeuten: wenn man erkennt, wie viel ungeahnte Schönheit in uns selbst und in den anderen liegt. Genau das kommt durch das Kunst-Event zum Ausdruck, das hier bei euch stattfindet und zu dessen Projekt ihr einen aktiven Beitrag leistet. Der Gefängnisaufenthalt kann eine Art »Baustelle« für den Wiederaufbau werden, auf der man mutig das eigene Leben betrachtet und bewertet, das Unnötige, Störende, Schädliche oder Gefährliche entfernt, Pläne macht und dann wieder neu anfängt, indem man Fundamente legt und im Licht der gemachten Erfahrungen wieder gemeinsam und entschlossen Stein auf Stein setzt. Und deshalb ist es wichtig, dass der Strafvollzug männlichen und weiblichen Häftlingen Werkzeuge und Räume für ein menschliches Wachstum bietet, für ein geistiges, kulturelles und berufliches Wachstum, und so die Voraussetzungen für ihre gute Wiedereingliederung geschaffen werden. Bitte: Nicht die Würde »in Isolationshaft nehmen«, nicht die Würden in Isolationshaft nehmen, sondern neue Chancen geben!
Vergessen wir nicht, dass wir alle Fehler haben, für die wir Vergebung brauchen, Wunden, die heilen müssen – auch ich. Und dass wir alle Geheilte werden können, die Heilung bringen; Menschen, denen vergeben wurde und die Vergebung schenken; Neugeborene, die Neugeburt bringen.
Liebe Freundinnen und Freunde, wir wollen heute gemeinsam unser Vertrauen in die Zukunft erneuern, ihr und ich. Nicht das Fenster schließen, bitte, immer auf den Horizont schauen, immer voller Hoffnung in die Zukunft schauen! Ich stelle mir die Hoffnung gern als einen Anker vor, weißt du, der in der Zukunft verankert ist, und wir haben das Seil in Händen und gehen voran mit dem Seil, das in der Zukunft verankert ist. Nehmen wir uns vor, jeden Tag mit den Worten zu beginnen: »Heute ist der richtige Zeitpunkt«, heute, »jetzt ist er da, der richtige Tag«, heute (vgl. 2 Kor 6,2). »Heute fange ich wieder neu an«, immer, das ganze Leben lang! Ich danke euch für diese Begegnung und versichere euch meines Gebets für jede von euch. Und bitte, betet ihr für mich. Für mich, nicht gegen mich!
Und das ist das Geschenk, das ich euch hierlasse. Seht, das ist ein wenig die Zärtlichkeit der Mutter, und diese zärtliche Güte hat Maria für jeden von uns, für jeden von uns. Sie ist die Mutter der Zärtlichkeit. Danke.
[Es folgte der Austausch von Geschenken sowie einige Grußworte von Gefängnisinsassinnen an den Papst.]
Und jetzt jagen sie mich weg! Danke, vielen Dank, ich werde an euch denken! Und mutig voran, nicht aufgeben, mutig sein und vorangehen!
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