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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH KASACHSTAN
(13. - 15. SEPTEMBER 2022)

VERLESEN DER ABSCHLUSSERKLÄRUNG DES KONGRESSES AM
 "PALAST DER UNABHÄNGIGKEIT"

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS

"Palast der Unabhängigkeit" (Nur-Sultan)
Donnerstag, 15. September 2022

[Multimedia]

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Liebe Brüder und Schwestern!

Wir waren gemeinsam unterwegs. Danke, dass ihr aus verschiedenen Teilen der Welt gekommen seid und den Reichtum eurer Glaubensbekenntnisse und eurer Kulturen hierher gebracht habt. Danke, dass ihr diese Tage des Austauschs, der Arbeit und des Engagements im Zeichen des Dialogs zu einem intensiven Erlebnis gemacht habt. Diese sind umso wertvoller in einer so schwierigen Zeit, auf der außer der Pandemie auch noch der sinnlose Wahnsinn des Krieges lastet. Es gibt zu viel Hass und Spaltung, zu viel Mangel an Dialog und Verständnis für den Anderen: Dies ist in der globalisierten Welt noch viel gefährlicher und anstößiger. Wir können nicht so weitermachen, gleichzeitig verbunden und getrennt, vernetzt und zerrissen durch zu viel Ungleichheit. Deshalb danke ich euch für eure Bemühungen um Frieden und Einheit. Danke an die hiesigen Behörden, die uns beherbergt und diesen Kongress mit großer Sorgfalt vorbereitet und durchgeführt haben, und an die freundliche und mutige Bevölkerung Kasachstans, die in der Lage ist, die anderen Kulturen zu umarmen und gleichzeitig ihre edle Geschichte und ihre kostbaren Traditionen zu bewahren. Kiop raqmet! Bolshoe spasibo! Thank you very much!

Mein Besuch, der sich nun dem Ende zuneigt, steht unter dem Motto Boten des Friedens und der Einheit. Es steht im Plural, weil der Weg ein gemeinsamer ist. Und dieser siebte Kongress, den zu erleben der Allerhöchste uns die Gnade geschenkt hat, hat eine wichtige Etappe markiert. Seit seiner Einführung im Jahr 2003 hat dieses Ereignis den Gebetstag für den Weltfrieden zum Vorbild gehabt, der 2002 von Johannes Paul II. in Assisi einberufen worden war, um den positiven Beitrag der religiösen Traditionen zum Dialog und zur Eintracht zwischen den Völkern zu bekräftigen. Nach den Ereignissen des 11. September 2001 war es notwendig, zu reagieren und gemeinsam auf das brandgefährliche Klima zu reagieren, zu dem die terroristische Gewalt anstiften wollte und das das Risiko barg, aus der Religion einen Konfliktfaktor zu machen. Aber Terrorismus mit pseudoreligiösem Charakter, Extremismus, Radikalismus und Nationalismus unter dem Deckmantel der Heiligkeit führen weiter zu Ängsten und Bedenken gegenüber der Religion. Deshalb war es gut, in diesen Tagen zusammenzukommen und die wahre und unverzichtbare Essenz der Religion neu zu bekräftigen.

In diesem Zusammenhang bekräftigt die Erklärung unseres Kongresses, dass Extremismus, Radikalismus, Terrorismus und jede andere Aufstachelung zu Hass, Feindseligkeit, Gewalt und Krieg, unabhängig von ihrer Motivation oder ihrem Ziel, nichts mit einem authentischen religiösen Geist zu tun haben und auf das Schärfste abgelehnt werden müssen (vgl. Nr. 5): verurteilt, ohne „wenn“ und „aber“. Ausgehend von der Tatsache, dass der Allmächtige alle Menschen gleich geschaffen hat, unabhängig von ihrer religiösen, ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit, haben wir beschlossen zu bekräftigen, dass gegenseitiger Respekt und gegenseitiges Verständnis in der religiösen Lehre als wesentlich und unverzichtbar angesehen werden müssen (vgl. Nr. 13).

Kasachstan, im Herzen des großen und maßgeblichen asiatischen Kontinents, war der natürliche Ort für unser Treffen. Seine Fahne hat uns an die Notwendigkeit erinnert, eine gesunde Beziehung zwischen Politik und Religion zu bewahren. Während der goldene Adler auf dem Banner an die irdische Autorität erinnert und auf alte Reiche hinweist, evoziert der blaue Hintergrund die Farbe des Himmels, die Transzendenz. Es gibt also eine gesunde Verbindung zwischen Politik und Transzendenz, eine gesunde Koexistenz, die die beiden Bereiche unterscheidet. Unterscheidung – weder Vermischung noch Trennung. „Nein“ zur Vermischung, um das Wohl des Menschen willen, der wie der Adler einen freien Himmel zum Fliegen braucht, einen freien und für die Unendlichkeit offenen Raum, der nicht durch irdische Macht begrenzt ist. Eine Transzendenz, die andererseits nicht der Versuchung erliegen darf, sich in Macht zu verwandeln, sonst würde der Himmel auf die Erde stürzen, das göttliche Jenseits wäre im irdischen Heute gefangen, die Nächstenliebe in parteiischen Entscheidungen. „Nein“ also zur Vermischung. Aber ebenso „Nein“ zur Trennung von Politik und Transzendenz, denn die höchsten menschlichen Bestrebungen dürfen nicht aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und in die Privatsphäre verbannt werden. Deshalb möge jeder und jede, die ihren Glauben rechtmäßig zum Ausdruck bringen möchten, immer und überall geschützt sein. Wie viele Menschen werden aber auch heute noch wegen ihres Glaubens verfolgt und diskriminiert! Wir haben die Regierungen und die zuständigen internationalen Organisationen nachdrücklich aufgefordert, den religiösen Gruppen und ethnischen Gemeinschaften beizustehen, die Verletzungen ihrer Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Gewalt durch Extremisten und Terroristen erlitten haben, auch als Folge von Kriegen und militärischen Konflikten (siehe Nr. 6). Vor allem müssen wir uns dafür einsetzen, dass Religionsfreiheit kein abstraktes Konzept ist, sondern ein konkretes Recht. Lasst uns für alle das Recht auf Religion, auf Hoffnung, auf Schönheit verteidigen: auf den Himmel. Denn nicht nur Kasachstan ist, wie seine Hymne kundtut, eine »goldene Sonne am Himmel«, sondern jeder Mensch: Jeder Mann und jede Frau kann, wenn er oder sie mit dem Göttlichen in Berührung ist, in unwiederholbarer Einzigartigkeit ein besonderes Licht auf die Erde ausstrahlen.

Deshalb glaubt die katholische Kirche, die nicht müde wird, die unantastbare Würde eines jeden Menschen zu verkünden, der „nach dem Bild Gottes“ (vgl. Gen 1,26) geschaffen ist, auch an die Einheit der Menschheitsfamilie. Sie glaubt: »Alle Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Erdkreis wohnen ließ« (Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Nostra aetate, 1). Deshalb hat sich der Heilige Stuhl von den Anfängen dieses Kongresses an, insbesondere durch das Dikasterium für den interreligiösen Dialog, aktiv daran beteiligt. Und so möchte er auch weiter verfahren: Der Weg des interreligiösen Dialogs ist ein gemeinsamer Weg des Friedens und für den Frieden, und als solcher ist er notwendig und unumkehrbar. Der interreligiöse Dialog ist nicht mehr bloß eine Möglichkeit, er ist ein dringender und unersetzlicher Dienst an der Menschheit, zum Lob und zur Ehre des Schöpfers aller.

Brüder und Schwestern, wenn ich über diesen gemeinsamen Weg nachdenke, frage ich mich: Was ist unser Schnittpunkt? Johannes Paul II. – der vor einundzwanzig Jahren in diesem selben Monat Kasachstan besuchte – hatte gesagt: »Alle Wege der Kirche führen zum Menschen« und der »Mensch ist der Weg der Kirche« (Enzyklika Redemptor hominis, 14). Ich möchte heute sagen, dass der Mensch auch der Weg aller Religionen ist. Ja, der konkrete Mensch, geschwächt durch die Pandemie, niedergeworfen durch den Krieg, verwundet durch Gleichgültigkeit! Der Mensch, ein zerbrechliches und wunderbares Geschöpf, »sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts« (Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 36) und ohne die anderen kann er nicht bestehen! Bevor wir wichtige Entscheidungen treffen, sollten wir mehr auf das Wohl des Menschen achten als auf strategische und wirtschaftliche Ziele, auf nationale, energetische und militärische Interessen. Um zu wirklich großartigen Entscheidungen zu gelangen, sollten wir auf die Kinder, auf die junge Menschen und auf ihre Zukunft, auf die älteren Menschen und ihre Weisheit, auf die ganz normalen Menschen und ihre wirklichen Bedürfnisse schauen. Und wir erheben unsere Stimme, um laut rufen, dass die menschliche Person mehr ist als das, was sie produziert und verdient; dass sie aufzunehmen und niemals wegzuwerfen ist; dass die Familie, in der kasachischen Sprache „Nest der Seele und der Liebe“, die natürliche und unersetzliche Grundlage ist, die es zu schützen und zu fördern gilt, damit die Männer und Frauen von morgen wachsen und reifen.

Die großen Weisheiten und Religionen sind dazu aufgerufen, für alle Menschen das Bestehen eines gemeinsamen geistlichen und moralischen Erbes zu bezeugen, das auf zwei Eckpfeilern beruht: der Transzendenz und der Geschwisterlichkeit. Transzendenz, das Jenseits, die Anbetung. Es ist schön, dass sich jeden Tag Millionen und Abermillionen von Männern und Frauen verschiedenen Alters, verschiedener Kulturen und sozialer Verhältnisse an unzähligen Kultorten zum Gebet versammeln. Das ist die verborgene Kraft, die die Welt in Bewegung hält. Und dann die Geschwisterlichkeit, die Mitmenschen, die Nähe: Denn niemand kann wahre Verbundenheit mit dem Schöpfer bekennen, wenn er dessen Geschöpfe nicht liebt. Dies ist der Geist, der die Erklärung unseres Kongresses durchwirkt, aus der ich zum Schluss drei Worte hervorheben möchte.

Das erste ist die Zusammenfassung von allem, der Ausdruck eines von Herzen kommenden Schreis, der Traum und das Ziel unseres Weges: Frieden! Beybitşilik, mir, peace! Frieden ist dringend notwendig, denn jeglicher militärische Konflikt oder jeglicher Herd der Spannung und der Konfrontation kann heute nur einen schädlichen „Dominoeffekt“ haben und gefährdet das System der internationalen Beziehungen ernsthaft (vgl. Nr. 4). Aber der »Friede besteht nicht darin, dass kein Krieg ist; er lässt sich auch nicht bloß durch das Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte sichern; er entspringt ferner nicht dem Machtgebot eines Starken«, sondern ist »Werk der Gerechtigkeit« (Gaudium et spes, 78). Er entspringt also der Geschwisterlichkeit, wächst durch den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit und wird aufgebaut, indem man den anderen die Hand reicht. Wir, die wir an den Schöpfer aller glauben, müssen uns bei der Verbreitung des friedlichen Zusammenlebens besonders hervortun. Wir müssen es bezeugen, predigen und erflehen. Deshalb fordert die Erklärung die Staats- und Regierungschefs der Welt auf, Konflikte und Blutvergießen überall zum Stillstand zu bringen und aggressive und zerstörerische Rhetorik aufzugeben (vgl. Nr. 7). Wir bitten euch im Namen Gottes und zum Wohle der Menschheit: Setzt euch für den Frieden ein, nicht für die Rüstung! Nur wenn ihr dem Frieden dient, wird euer Name in der Geschichte groß bleiben.

Wenn es an Frieden mangelt, liegt das daran, dass es an Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit fehlt, an der Fähigkeit, Leben hervorzubringen. Und so muss er gesucht werden, indem – das zweite Wort – die Frau mehr einbezogen wird. Denn die Frau gibt der Welt Fürsorge und Leben: Sie ist Weg zum Frieden. Deshalb haben wir die Notwendigkeit betont, ihre Würde zu schützen und ihren sozialen Status zu verbessern, da sie ein gleichberechtigtes Mitglied der Familie und der Gesellschaft ist (vgl. Nr. 23). Außerdem müssen Frauen mehr Aufgaben und größere Verantwortlichkeiten anvertraut werden. Wie viele Entscheidungen des Todes würden vermieden, wenn eben gerade Frauen im Zentrum der Entscheidungen stünden! Lasst uns dafür sorgen, dass sie mehr respektiert, anerkannt und einbezogen werden.

Schließlich das dritte Wort: die jungen Menschen. Sie sind die Boten des Friedens und der Einheit von heute und von morgen. Sie sind es, die mehr als andere zum Frieden und zur Achtung vor dem gemeinsamen Haus der Schöpfung aufrufen. Stattdessen zeichnen die Logik von Herrschaft und Ausbeutung, der Aufkauf von Ressourcen, Nationalismen, Kriege und Einflusszonen eine alte Welt, die junge Menschen ablehnen, eine Welt, die ihren Träumen und Hoffnungen verschlossen ist. Ebenso gehören starre und erstickende Arten von Religiosität nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit an. Mit Blick auf die neuen Generationen wurde hier die Bedeutung von Bildung bekräftigt, die die gegenseitige Akzeptanz und das respektvolle Zusammenleben der Religionen und Kulturen stärkt (vgl. Nr. 21). Geben wir den jungen Menschen Bildungschancen an die Hand, nicht Waffen der Zerstörung! Und lasst uns ihnen zuhören, ohne Angst, uns von ihnen befragen zu lassen. Vor allem aber lasst uns eine Welt errichten und dabei an sie denken!

Brüder, Schwestern, die Bevölkerung von Kasachstan, die offen für die Zukunft ist und Zeugin vieler vergangener Leiden, bietet uns mit ihrer außergewöhnlichen Multireligiosität und Multikulturalität ein Beispiel für die Zukunft. Sie lädt uns ein, eine Zukunft zu errichten, ohne dabei die Transzendenz und die Geschwisterlichkeit, die Anbetung des Allerhöchsten und die Annahme des Anderen zu vergessen. Lasst uns auf diese Weise voranschreiten und gemeinsam als Kinder des Himmels auf der Erde unterwegs sein, als Weber der Hoffnung und Handwerker der Eintracht, als Boten des Friedens und der Einheit!



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