APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS NACH KANADA
(24. - 30. JULI 2022)
BEGEGNUNG MIT DEN VERTRETERN DER ZIVILGESELLSCHAFT
UND DER INDIGENEN VÖLKER UND MIT DEM DIPLOMATISCHEN KORPS
ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
"Zitadelle von Québec"
Mittwoch, 27. Juli 2022
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Frau Generalgouverneurin,
Herr Premierminister,
verehrte zivile und religiöse Verantwortungsträger,
liebe Vertreter der indigenen Völker,
geschätzte Mitglieder des diplomatischen Korps,
meine Damen und Herren!
Herzlich grüße ich sie und danke Frau Mary Simon sowie Herrn Justin Trudeau für ihre freundlichen Worte. Ich freue mich, zu ihnen zu sprechen, die Sie die Verantwortung tragen, den Menschen dieses großen Landes zu dienen, das „von Meer zu Meer“ ein außergewöhnliches Naturerbe besitzt. Unter den vielen Schönheiten denke ich vor allem an die riesigen, eindrucksvollen Ahornwälder, die die kanadische Landschaft einzigartig und farbenfroh machen. Ich möchte mich an das Symbol dieser Gegenden anlehnen, das Ahornblatt, das sich schnell ausgehend von den Wappen Québecs zu dem Emblem entwickelt hat, das sich auf der Landesfahne wiederfindet.
Auch wenn dies nicht vor allzu langer Zeit geschehen ist, so bewahren die Ahornbäume doch die Erinnerung an viele frühere Generationen, lange bevor Siedler kanadischen Boden betraten. Die Urvölker zapften aus ihnen den Saft, aus dem sie nahrhaften Sirup herstellten. Dies lässt uns an ihre Betriebsamkeit denken, die stets darauf bedacht war, die Erde und die Umwelt zu schützen, getreu einer harmonischen Sicht der Schöpfung als einem offenen Buch, das den Menschen lehrt, den Schöpfer zu lieben und in Symbiose mit anderen Lebewesen zu leben. Daraus lässt sich viel lernen, aus der Fähigkeit, auf Gott, die Menschen und die Natur zu hören. Das brauchen wir vor allem in der Hektik der heutigen Welt, die durch eine ständige „Beschleunigung“ gekennzeichnet ist, die eine wirklich menschliche, nachhaltige und ganzheitliche Entwicklung erschwert (vgl. Enzyklika Laudato si', 18) und schließlich eine desillusionierte „Müdigkeitsgesellschaft“ hervorbringt, die Mühe hat, die Freude an der Kontemplation, an echten Beziehungen, an der Mystik des Miteinanders wiederzuentdecken. Wie sehr brauchen wir das gegenseitige Zuhören und den Dialog, um von dem vorherrschenden Individualismus, den vorschnellen Urteilen, der um sich greifenden Aggressivität und der Versuchung, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, wegzukommen! Die großen Ahornblätter, die verschmutzte Luft absorbieren und Sauerstoff zurückgeben, laden uns ein, die Schönheit der Schöpfung zu bewundern und uns von den gesunden Werten der indigenen Kulturen anziehen zu lassen: Sie sind eine Inspiration für uns alle und können dazu beitragen, die schädlichen Gewohnheiten der Ausbeutung zu beseitigen, welche nicht nur die Schöpfung, sondern auch die Beziehungen und die Zeit ausbeuten und die menschlichen Aktivitäten ausschließlich auf der Grundlage von Nutzen und Profit regulieren.
Diese lebenswichtigen Lehren wurden jedoch in der Vergangenheit heftig bekämpft. Ich denke dabei insbesondere an die Assimilations- und Entrechtungspolitik, einschließlich des Systems der Residential Schools, das vielen indigenen Familien geschadet und ihre Sprache, Kultur und Einstellung zur Welt gefährdet hat. In dieses beklagenswerte, von den damaligen Regierungsbehörden geförderte System, das viele Kinder von ihren Familien trennte, waren einige örtliche katholische Einrichtungen miteinbezogen. Dafür bringe ich Beschämung und Schmerz zum Ausdruck und wiederhole gemeinsam mit den Bischöfen dieses Landes meine Bitte um Vergebung für das von vielen Christen an den indigenen Völkern begangene Übel. Für all das bitte ich um Vergebung. Es ist tragisch, wenn sich gläubige Menschen, so wie in jener historischen Epoche geschehen, mehr an die Regeln der Welt als an das Evangelium anpassen. Wenn einerseits der christliche Glaube eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der hohen Ideale Kanadas gespielt hat, die von dem Wunsch geprägt sind, ein besseres Land für alle seine Bewohner zu schaffen, dann ist es andererseits notwendig, die eigene Schuld einzugestehen und sich gemeinsam für das einzusetzen, was sie, wie ich weiß, alle teilen: die legitimen Rechte der indigenen Völker zu fördern und Prozesse der Heilung und Versöhnung zwischen ihnen und den nicht-indigenen Völkern des Landes zu unterstützen. Dies spiegelt sich in ihrer Verpflichtung wider, auf die Appelle der Wahrheits- und Versöhnungskommission angemessen zu reagieren, sowie in ihrer Aufmerksamkeit für die Anerkennung der Rechte der indigenen Völker.
Der Heilige Stuhl und die katholischen Gemeinschaften vor Ort hegen den konkreten Wunsch, die indigenen Kulturen zu fördern, mit spezifischen, geeigneten spirituellen Wegen, einschließlich der Beachtung ihrer kulturellen Traditionen, Bräuche, Sprachen und Bildungsprozesse, im Sinne der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker. Es ist unser Wunsch, die Beziehung zwischen der Kirche und den indigenen Völkern Kanadas zu erneuern, eine Beziehung, die sowohl von einer Liebe geprägt ist, die große Frucht getragen hat, als auch leider von Wunden, die wir zu verstehen und zu heilen versuchen. Ich bin sehr dankbar, dass ich in den letzten Monaten in Rom mit verschiedenen Vertretern der indigenen Völker zusammengetroffen bin und ihnen zugehört habe, und dass ich hier in Kanada die guten Beziehungen, die wir zueinander entwickelt haben, weiter vertiefen kann. Die Momente, die wir gemeinsam erlebt haben, haben mich geprägt und den festen Wunsch geweckt, meiner Empörung und Beschämung über das von den Ureinwohnern erduldete Leid Raum zu geben und auf einem geschwisterlichen und geduldigen Weg fortzuschreiten, der mit allen Kanadiern im Sinne von Wahrheit und Gerechtigkeit beschritten werden muss, um Heilung und Versöhnung zu erreichen, immer beseelt von der Hoffnung.
Diese »Geschichte von Leid und Missachtung«, die ihren Ursprung in einer kolonialen Mentalität hat, »heilt nicht leicht«. Gleichzeitig warnt die Geschichte uns: »die Kolonialisierung [nimmt] kein Ende, sondern verändert, tarnt und verbirgt sich an vielen Orten« (Apostolisches Schreiben Querida Amazonia, 16). Dies ist der Fall der ideologischen Kolonialisierung. Während die kolonialistische Mentalität einst das konkrete Leben der Menschen vernachlässigte und ihnen kulturelle Modelle aufzwang, mangelt es auch heute nicht an ideologischen Kolonialisierungen, die im Gegensatz zur Realität stehen, die natürliche Bindung an die Werte der Völker ersticken und versuchen, ihre Traditionen, ihre Geschichte und ihre religiösen Bindungen zu zerstören. Es handelt sich um eine Mentalität, die in der Annahme, „die dunklen Seiten der Geschichte“ überwunden zu haben, jener cancel culture Platz macht, die die Vergangenheit nur nach bestimmten aktuellen Kategorien bewertet. So wird eine kulturelle Mode implantiert, die standardisiert, alles gleichmacht, keine Unterschiede duldet und sich nur auf den gegenwärtigen Moment, auf die Bedürfnisse und Rechte des Einzelnen konzentriert und dabei oft die Pflichten gegenüber den Schwächsten und Zerbrechlichsten vernachlässigt: den Armen, den Migranten, den alten Menschen, den Kranken, den Ungeborenen … Sie sind es, die in den Wohlstandsgesellschafen vergessen werden; sie sind es, die in der allgemeinen Gleichgültigkeit weggeworfen werden wie trockene Blätter, die man verbrennt.
Stattdessen erinnert uns das reiche, bunte Laubkleid der Ahornbäume daran, wie wichtig das Miteinander ist und wie wichtig es ist, menschliche Gemeinschaften zu bilden, die nicht uniformieren, sondern wirklich offen und integrativ sind. Und so wie jedes Blatt unerlässlich ist, um das Laubwerk zu bereichern, so muss auch jede Familie, als Kernzelle der Gesellschaft, wertgeschätzt werden, denn »die Zukunft der Menschheit geht über die Familie« (Hl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 86). Sie ist die erste konkrete soziale Realität, die jedoch durch viele Faktoren bedroht ist: häusliche Gewalt, Arbeitswut, individualistische Mentalität, ungezügelter Karrieresucht, Arbeitslosigkeit, Vereinsamung der Jugend, Verlassenheit der Alten und Kranken... Die indigenen Völker haben uns so viel über die Pflege und den Schutz der Familie zu lehren, in der wir schon als Kinder lernen, zu erkennen, was richtig und was falsch ist, die Wahrheit zu sagen, zu teilen, Unrecht wiedergutzumachen, neu anzufangen und sich zu versöhnen. Möge das Übel, das die indigenen Völker erlitten haben und über das wir uns schämen, uns heute als Warnung dienen, damit die Sorge um die Familie und ihre Rechte nicht im Namen etwaiger Produktionsbedürfnisse und individueller Interessen vernachlässigt werden.
Kehren wir zum Ahornblatt zurück. In Kriegszeiten wurde es von den Soldaten als Verband und Wundauflage verwendet. Angesichts des sinnlosen Wahnsinns des Krieges müssen wir heute erneut die extremen Formen der Gegensätzlichkeit zügeln und die Wunden des Hasses heilen. Eine Zeugin tragischer Gewalt der Vergangenheit sagte kürzlich, dass »der Frieden sein eigenes Geheimnis hat: Hasse niemanden. Wenn du leben willst, darfst du niemals hassen« (Interview mit E. Bruck, in „Avvenire“, 8. März 2022). Wir brauchen die Welt nicht in Freunde und Feinde aufteilen, uns distanzieren und uns bis an die Zähne wiederbewaffnen: Nicht das Wettrüsten und Abschreckungsstrategien werden Frieden und Sicherheit bringen. Es stellt sich nicht die Frage, wie man Kriege fortsetzen kann, sondern wie man sie beenden kann. Und wie verhindert werden kann, dass die Völker erneut in Geiselhaft genommen werden durch Verwicklung in erschreckende kalte Kriege, die sich noch ausweiten. Es besteht ein Bedarf an kreativer, zukunftsorientierter Politik, die es versteht, über den Tellerrand der Parteien hinauszuschauen, um Antworten auf globale Herausforderungen zu finden.
Die großen Herausforderungen unserer Zeit, wie Frieden, Klimawandel, Pandemien und internationale Migration, sind nämlich durch eine Konstante vereint: Sie sind global, sie sind globale Herausforderungen und betreffen jeden. Und wenn alle von der Notwendigkeit des Miteinanders sprechen, darf die Politik nicht ein Gefangener von Einzelinteressen bleiben. Wir müssen in der Lage sein, den Blick auf die sieben zukünftigen Generationen zu richten, so wie es die indigene Weisheit lehrt, und nicht auf die unmittelbaren Vorteile, Wahltermine oder die Unterstützung von Lobbys; und auch die Sehnsucht der jungen Generationen nach Geschwisterlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden zur Geltung kommen lassen. Ja, denn so wie es notwendig ist, auf die älteren Menschen zu hören, um die Erinnerung und die Weisheit wiederzufinden, genauso ist es notwendig, die Träume der Jungen aufzugreifen, um Schwung und eine Zukunft zu haben. Sie verdienen eine bessere Zukunft als die, die wir für sie vorbereiten, sie verdienen es, an den Entscheidungen für den Aufbau von heute und morgen beteiligt zu werden, insbesondere für die Erhaltung des gemeinsamen Hauses, für das die Werte und Lehren der indigenen Völker wertvoll sind. In diesem Zusammenhang möchte ich meine Anerkennung für das lobenswerte örtliche Engagement für die Umwelt zum Ausdruck bringen. Man könnte fast sagen, dass Embleme aus der Natur, wie die Lilie in der Flagge der Provinz Québec und das Ahornblatt in der Flagge des Landes, die ökologische Berufung Kanadas bestätigen.
Als der Sonderausschuss die Tausenden von Entwürfen für die Nationalflagge auswertete, von denen viele von einfachen Bürgern eingereicht worden waren, überraschte es, dass fast alle die Darstellung des Ahornblatts enthielten. Die Beteiligung bezüglich dieses gemeinsamen Symbols legt mir nahe, ein Schlüsselwort der Kanadier zu betonen: Multikulturalität. Sie ist das Fundament des Zusammenhalts einer Gesellschaft, die so vielfältig und bunt ist wie die Ahornkronen. Das Ahornblatt selbst, mit seiner Vielzahl von Spitzen und Seiten, suggeriert eine facettenreiche Gestalt und sagt, dass ihr ein Volk seid, das fähig ist, zu integrieren, damit alle, die ankommen, einen Platz in dieser vielgestaltigen Einheit finden und ihren originellen Beitrag leisten können (vgl. Evangelii gaudium, 236). Multikulturalität ist eine ständige Herausforderung: Es geht darum, die verschiedenen vorhandenen Komponenten willkommen zu heißen und einzubeziehen und dabei die Vielfalt ihrer Traditionen und Kulturen zu respektieren, ohne zu glauben, dass der Prozess ein für alle Mal abgeschlossen ist. In diesem Sinne möchte ich meine Anerkennung für die großzügige Aufnahme zahlreicher ukrainischer und afghanischer Migranten zum Ausdruck bringen. Es muss auch daran gearbeitet werden, die Rhetorik der Angst gegenüber Migranten zu überwinden und ihnen im Rahmen der Möglichkeiten des Landes eine echte Chance zu geben, sich verantwortungsvoll in die Gesellschaft einzubringen. Hierfür sind Rechte und Demokratie unerlässlich. Es ist jedoch notwendig, der individualistischen Mentalität entgegenzutreten und daran zu erinnern, dass das gemeinschaftliche Leben auf Voraussetzungen beruht, die das politische System allein nicht schaffen kann. Auch hier ist die indigene Kultur sehr hilfreich, indem sie uns an die Bedeutung der Werte der Sozialität erinnert. Und auch die katholische Kirche mit ihrer universalen Dimension und ihrer Fürsorge für die Schwächsten, mit ihrem berechtigten Einsatz für das menschliche Leben in jeder Phase, von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod, bietet gerne ihren Beitrag an.
In diesen Tagen habe ich von zahlreichen Bedürftigen gehört, die an die Türen der Kirchengemeinden klopfen. Selbst in einem so entwickelten und fortschrittlichen Land wie Kanada, das der sozialen Fürsorge viel Aufmerksamkeit widmet, gibt es nicht wenige Obdachlose, die auf Kirchen und Tafeln angewiesen sind, um die notwendige Hilfe und die grundlegende Unterstützung zu erhalten, die - das sollten wir nicht vergessen - nicht nur materiell ist. Diese Brüder und Schwestern führen uns vor Augen, wie dringlich es ist, sich für die Beseitigung der radikalen Ungerechtigkeit einzusetzen, die unsere Welt verseucht und durch die die Fülle der Gaben der Schöpfung viel zu ungleich verteilt ist. Es ist ein Skandal, dass der durch die wirtschaftliche Entwicklung geschaffene Wohlstand nicht allen Teilen der Gesellschaft zugutekommt. Und es ist traurig, dass gerade unter den Indigenen oft hohe Armutsquoten zu finden sind, mit denen andere negative Indikatoren verbunden sind, wie niedrige Schulbildung, erschwerter Zugang zu Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Möge das Emblem des Ahornblatts, das regelmäßig auf den Produktetiketten des Landes zu sehen ist, ein Ansporn für alle sein, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen zu treffen, die darauf abzielen, zu teilen und sich der Bedürftigen anzunehmen.
Die drängenden Herausforderungen der heutigen Zeit können nur gemeinsam bewältigt werden. Ich danke ihnen für ihre Gastfreundschaft, ihre Aufmerksamkeit und ihre Wertschätzung und sage ihnen mit aufrichtiger Zuneigung, dass mir Kanada und sein Volk wirklich am Herzen liegen.
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