ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE GEMEINSCHAFT DES PRIESTERSEMINARS "PIUS XI." DER REGION MARKEN
Clementina-Saal
Donnerstag, 10. Juni 2021
Liebe Brüder
Ich freue mich, eure Gemeinschaft des Päpstlichen Priesterseminars »Pius XI.« der Region Marken zu empfangen. Ich danke dem Rektor für seine Worte der Begrüßung: voller Begeisterung, dieser Rektor! Unser Begegnung findet in dem Jahr statt, das dem heiligen Josef gewidmet ist, und das veranlasst mich, einige Gedanken über die Berufung mit euch zu teilen, die inspiriert sind von »dieser außergewöhnlichen Gestalt [...], die einem jeden von uns menschlich so nahe ist« und die auch der Berufung nahe ist, die Gott an uns gerichtet hat.
Ich stelle mir das Priesterseminar gerne als die Familie von Nazaret vor, in der Jesus aufgenommen, behütet und geformt wurde im Hinblick auf die ihm vom Vater anvertraute Sendung. Der Sohn Gottes hat akzeptiert, dass er von menschlichen Eltern, Maria und Josef, geliebt und geleitet wurde, und damit lehrt er einen jeden von uns, dass ohne Fügsamkeit niemand in der Lage ist, zu wachsen und zu reifen. Ich möchte dies unterstreichen, weil man selten von der Fügsamkeit spricht. Fügsam zu sein ist eine Gabe, um die wir bitten müssen. Fügsamkeit ist eine Tugend, die man nicht nur erlangen, sondern die man auch empfangen muss. Es ist wichtig, dass jeder von euch sich beständig fragt: »Bin ich fügsam? Bin ich rebellisch, oder ist es mir egal, handle ich, wie es mir wichtig ist?« Nein: Fügsam sein ist eine konstruktive Haltung der eigenen Berufung und auch der eigenen Persönlichkeit. Ohne Fügsamkeit kann niemand wachsen und reifen. Auch die Ratio Fundamentalis Institutionis sacerdotalis sagt, dass der Priester ein Jünger ist, der ununterbrochen den Spuren des Meisters folgt, und daher ist seine Ausbildung und Formung ein kontinuierlicher Prozess – begonnen in der Familie, fortgesetzt in der Pfarrei, gefestigt im Seminar –, der das ganze Leben lang andauert. Die Gestalt des heiligen Josef ist das schönste Vorbild, an dem eure Ausbilder sich inspirieren sollen, um eure Berufung zu bewahren und zu pflegen. An sie möchte ich mich daher zunächst wenden.
Liebe Mitbrüder aus der Bischofskonferenz der Marken, hauptverantwortlich für die Ausbildung dieser jungen Männer; lieber Rektor, lieber Spiritual und alle Ausbilder: Seid für eure Seminaristen das, was Josef für Jesus war! Sie können mehr von eurem Leben lernen als von euren Worten, wie es im Haus von Nazaret geschah, wo Jesus in der Schule des »kreativen Mutes« von Josef geformt wurde. Sie sollen von eurer Fügsamkeit den Gehorsam lernen, von eurer Hingabe den Fleiß, vom Zeugnis eurer Einfachheit und Verfügbarkeit sollen sie die Großherzigkeit gegenüber den Armen lernen, von eurer lebendigen, keuschen Zuneigung die Väterlichkeit. »Die Tradition [spricht] Josef nicht nur als Vater an, sondern fügt hier noch das Wort ›keusch‹ hinzu. Dies ist nicht eine rein affektive Angabe, sondern drückt eine Haltung aus, die man als das Gegenteil von ›besitzergreifend‹ bezeichnen könnte. Keuschheit ist die Freiheit von Besitz in allen Lebensbereichen. Nur wenn eine Liebe keusch ist, ist sie wirklich Liebe. Die Liebe, die besitzen will, wird am Ende immer gefährlich, sie nimmt gefangen, erstickt und macht unglücklich« (Apostolisches Schreiben Patris corde).
Und nun, liebe Seminaristen, möchte ich mich an euch wenden, die die Kirche bittet, dem Beispiel Jesu zu folgen, der sich fügsam von Josef erziehen lässt. Von Kindesbeinen an hat er die Mühen erlebt, den jeder Weg des Wachstums mit sich bringt; er hat sich die großen Fragen des Lebens gestellt; er hat begonnen, selbst Verantwortung zu übernehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. Aber er war Gott, er brauchte das nicht... Doch: Er hat gelernt, aber er hat wirklich gelernt. Er hat nicht so getan, als würde er lernen. Nein, er hat gelernt. Er war Gott, ja, aber er war wahrer Mensch: Er hat alle Etappen des menschlichen Wachstums durchlaufen. Vielleicht haben wir noch nicht genug über den jungen Jesus nachgedacht, wie er die eigene Berufung unterscheidet, wie er Maria und Josef zuhört und sich ihnen anvertraut, wie er mit dem Vater spricht, um seine Sendung zu verstehen.
Auch für euch soll das Priesterseminar sein wie das Haus von Nazaret, in dem der Sohn Gottes von den Eltern Menschlichkeit und Nähe gelernt hat. Gebt euch nicht damit zufrieden, im Gebrauch der sozialen Medien versiert zu sein, um zu kommunizieren. Nur vom Wort Gottes verwandelt, könnt ihr Worte des Lebens kommunizieren. Die Welt dürstet nach Priestern, die in der Lage sind, denjenigen, die Sünde und Scheitern erfahren haben, die Güte des Herrn mitzuteilen; sie dürstet nach Priestern, die Experten in Fragen menschlicher Erfahrung sind; nach Hirten, die bereit sind, Freude und Leid der Brüder und Schwestern zu teilen; nach Menschen, die sich vom Schrei der Leidenden treffen lassen. Schöpft aus dem Evangelium und vom Tabernakel die Menschlichkeit Jesu, sucht sie in den Leben der Heiligen und der vielen Helden der Nächstenliebe, denkt an das echte Beispiel derer, die euch den Glauben weitergegeben haben, an eure Großeltern, an eure Eltern. Schon Paulus hat zu seinem geliebten Jünger Timotheus gesagt: »Denk an deine Mutter und an deine Großmutter, an deine Wurzeln.«
Und lest auch jene Schriftsteller, die es verstanden haben, in die menschliche Seele zu blicken. Ich denke zum Beispiel an Dostojewski, der in den armseligen Ereignissen irdischen Schmerzes die Schönheit der rettenden Liebe zu enthüllen wusste. Jemand von euch könnte sagen: Aber was hat Dostojewski damit zu tun? Das ist etwas für belesene Gelehrte! Nein, nein: Es ist, um in der Menschlichkeit zu wachsen. Lest die großen Klassiker. Ein Priester kann sehr diszipliniert sein, er mag Theologie und auch Philosophie und viele andere Dinge erklären können. Aber wenn er nicht menschlich ist, nützt dies nichts. Er soll hinausgehen und Professor werden. Aber wenn er nicht menschlich ist, kann er kein Priester sein: Es fehlt ihm etwas. Fehlt ihm die Sprache? Nein, er kann sprechen. Es fehlt ihm das Herz. Experten der Menschlichkeit!
Das Seminar darf euch also nicht von der Wirklichkeit, von den Gefahren und noch weniger von den anderen distanzieren, sondern es muss euch vielmehr Gott und den Brüdern und Schwestern näherbringen. Hinter den Mauern des Priesterseminars sollt ihr die Grenzen des Herzens weit machen – ein weites Herz – und sie auf die ganze Welt ausweiten; begeistert euch für das, was »näherbringt«, begeistert euch für das, was näherbringt, was öffnet, was Begegnung entstehen lässt. Misstraut den Erfahrungen, die zu einem sterilen Innerlichkeitskult führen, den »befriedigenden Spiritualismen«, die Trost zu spenden scheinen, aber vielmehr zu Verschlossenheit und Starrheit führen. Und darauf möchte ich kurz eingehen. Starrheit ist heute ein bisschen modern, und rigide sein ist eines der Zeichen des Klerikalismus. Der Klerikalismus ist eine Perversion des Priestertums: es ist eine Perversion. Und verhärteter Rigorismus ist eine Art und Weise, wie er sich manifestiert. Wenn ich einem rigiden Seminaristen oder Neupriester begegne, dann sage ich, »diesem passiert etwas Schlimmes in seinem Inneren«. Hinter jeder starren Härte verbirgt sich ein gravierendes Problem, weil es der Rigidität an Menschlichkeit fehlt.
Abschließend möchte ich euch einige Anregungen in Bezug auf die vier Dimensionen der Ausbildung – menschlich, spirituell, intellektuell und pastoral – ans Herz legen. Diese Dimensionen gehören zusammen, und eine verwirklicht sich auf der Grundlage der anderen: menschliche Dimension, spirituelle Dimension, intellektuelle und pastorale Dimension. Vor allem distanziert euch nicht von eurer Menschlichkeit, lasst die Komplexität eures Innenlebens, eurer Empfindungen und der Affektivität nicht vor der Tür des Seminars zurück: Lasst sie nicht draußen! Verschließt euch nicht, wenn ihr einen Moment der Krise oder der Schwäche erlebt: Es gehört zur Menschlichkeit, darüber zu sprechen. Öffnet euch in aller Aufrichtigkeit euren Ausbildern und kämpft gegen jede Form innerer Falschheit. Diejenigen, die das Gesicht der seligen Imelda haben und im eigenen Inneren ein Desaster sind: Nein, das ist innere Falschheit. Spielt nicht Engelchen! Nein. Pflegt reine, frohe, befreiende, erfüllende menschliche Beziehungen, fähig zur Freundschaft, fähig zu Gefühlen, fähig zur Fruchtbarkeit.
Die spirituelle Dimension, die Spiritualität: Das Gebet darf kein Formalismus sein – die Rigiden enden immer im Formalismus. Das Gebet soll eine Gelegenheit zur persönlichen Begegnung mit Gott sein. Und wenn du auf Gott wütend bist, dann sei es. Denn wütend auf den Vater zu sein ist eine Art und Weise, Liebe zum Ausdruck zu bringen. Hab’ keine Angst: Er versteht diese Sprache, er ist Vater – die persönliche Begegnung mit Gott, die aus einem vertrauten Dialog mit ihm besteht. Seid wachsam, damit es nicht geschieht, dass wir uns in der Liturgie und im gemeinschaftlichen Gebet selbst feiern. Einmal bin ich in ein Geschäft für Priesterkleidung gegangen, um Hemden zu kaufen – als ich noch hinausgehen konnte, jetzt nicht mehr. Da war ein junger Mann, Seminarist oder Priester, der auf der Suche nach Kleidung war. Ich habe ihn betrachtet: Er schaute sich im Spiegel an. Und mir kam dieser Satz in den Sinn: Der feiert sich selbst und dasselbe wird er am Altar tun. Bitte, in keiner Liturgiefeier dürfen wir uns selbst feiern. Bereichert das Gebet mit Gesichtern, versteht euch bereits jetzt als Fürbittende für die Welt.
Das Studium – die dritte Dimension – soll euch helfen, bewusst und kompetent in die Komplexität der Kultur und des zeitgenössischen Den- kens einzutreten, keine Angst davor zu haben, ihr nicht feindlich gesinnt zu sein. Keine Angst haben. »Aber, Pater, wir leben in einer Zeit, die vom atheistischen Denken geprägt ist.« – Aber du musst es verstehen, musst einen Dialog führen und du musst dieser Welt, diesem Denken deinen Glauben verkünden und Jesus Christus bekennen. Dort muss die Weisheit des Evangeliums Gestalt annehmen. Und die Herausforderung der Mission, die euch erwartet, erfordert heute mehr denn je Kompetenz und Ausbildung. Heute mehr denn je sind Studium, Kompetenz, Ausbildung notwendig, um mit dieser Welt zu sprechen.
Und die pastorale Ausbildung, die vierte Dimension, soll euch drängen, mit Begeisterung auf die Menschen zuzugehen. Man ist Priester, um dem Volk Gottes zu dienen, um sich der Wunden aller anzunehmen, besonders der Armen. Verfügbarkeit für die anderen: Das ist der sichere Beweis für das Ja zu Gott. Und kein Klerikalismus, das habe ich bereits gesagt. Jünger Jesu zu sein bedeutet, von sich selbst frei zu werden und seine Haltung anzunehmen, ihm gleich, der gekommen ist, »nicht um bedient zu werden, sondern um zu dienen« (vgl. Mk 10,45).
Der wahre Hirte distanziert sich nicht vom Volk Gottes: Er ist im Volk Gottes, entweder da- vor – um den Weg zu zeigen – oder mitten unter ihm – um es besser zu verstehen – oder hinter ihm, um denjenigen zu helfen, die zu weit zurückbleiben und auch ein wenig, damit wir uns vom Volk, von der Herde mit ihrem Spürsinn zeigen lassen, wo die neuen Weiden sind. Der wahre Hirt muss sich kontinuierlich an diesen drei Stellen bewegen: davor, in der Mitte und dahinter. Zuweilen sehe ich Bücher oder Kongresse über das Priestertum, die diesen oder jenen Einzelaspekt behandeln. Es ist wahr, man muss all dies studieren, aber wenn all diese Aspekte ihre Wurzeln nicht in deiner Zugehörigkeit zum heiligen gläubigen Gottesvolk haben, sind es rein akademische Überlegungen, die nutzlos sind. Du bist Priester des heiligen gläubigen Gottesvolkes, du bist Priester, weil du das Taufpriestertum hast, und das könnt ihr nicht leugnen.
Schließlich möchte ich euren Hirten – euch und euren Kollegen: danke – und euren Diözesangemeinschaften danken für das Zeugnis kirchlicher Gemeinschaft durch die Entscheidung, die interdiözesane und regionale Einrichtung des Priesterseminars zu nutzen: Das gefällt mir sehr. Und auch aus Notwendigkeit, denn eine Diözese, die vier Seminaristen hat, kann kein Seminar mit vier oder fünf oder sechs Seminaristen haben: Gemeinschaft ist notwendig. In einer Zeit, in der man – außerhalb wie innerhalb der Kirche – Abkapselungen von der Art einer »Kirchturmpolitik« erlebt, ist die Erfahrung der Gemeinschaft, die ihr lebt, ein schönes Vorbild auch für andere Diözesen, denen ein gemeinsames Ausbildungsprojekt hilft, Ausbilder und Dozenten zu finden, die der großen Herausforderung der Berufungsbegleitung entsprechen können.
Und noch ein Letztes. In diesen vier Dimensionen – intellektuell, pastoral, gemeinschaftlich und spirituell – habt ihr Professoren, Ausbilder, geistliche Leiter, und ihr müsst mit ihnen sprechen. Aber sucht – in euren Diözesen – die alten Priester, jene Priester, die die Weisheit des guten Weines haben; die euch durch ihr Zeugnis lehren werden, wie man pastorale Probleme löst; die die Namen aller kannten, von jedem ihrer Gläubigen, auch den Namen der Hunde: Das hat mir einer von ihnen gesagt. Aber wie schafften Sie das – habe ich gesagt –, sie zu kennen, wo sie doch vier Pfarreien hatten? »Doch, ja, das kann man«, hat er mir voller Demut gesagt. Aber ist es Ihnen gelungen alle zu kennen? »Ja, ich kannte jeden Namen, auch den Namen der Hunde.« Er ist tüchtig. Ein so naher Priester, und auch dem Tabernakel sehr nahe: Er blickte auf alle mit dem Glauben und der Geduld Jesu. Alte Priester, die so viele Probleme der Menschen auf ihren Schultern getragen und geholfen haben, mehr oder weniger gut zu leben, und die allen geholfen haben, gut zu sterben. Sprecht mit diesen Priestern, die der Schatz der Kirche sind! Viele von ihnen werden zuweilen vergessen oder sind in einem Altenheim: Geht sie besuchen! Sie sind ein Schatz.
Der heilige Josef begleite euch, und die Muttergottes behüte euch. Ich segne euch, und bitte betet für mich, denn diese Arbeit ist alles andere als einfach! Danke.
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