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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE PÄPSTLICHE AKADEMIE DER SOZIALWISSENSCHAFTEN

Clementina-Saal
Donnerstag, 2. Mai 2019

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Liebe Schwestern und Brüder!

Ich heiße Sie willkommen und danke Ihrem Präsidenten, Prof. Stefano Zamagni, für seine freundlichen Worte und für seine Bereitschaft, die Päpstliche Akademie der Sozialwissenschaften zu leiten. Auch in diesem Jahr haben Sie sich für die Behandlung eines stets aktuellen Themas entschieden. Leider haben wir Situationen vor Augen, in denen einige Nationalstaaten ihre Beziehungen mehr in einem Geist der Opposition als im Geist der Zusammenarbeit gestalten. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Staatsgrenzen nicht immer mit Trennungslinien homogener Bevölkerungsgruppen übereinstimmen und dass viele Spannungen aus einem exzessiven Herrschaftsanspruch von Seiten der Staaten verursacht werden, häufig gerade in Bereichen, wo diese nicht mehr in der Lage sind, wirksam für den Schutz des Gemeinwohls tätig zu werden.

Sowohl in der Enzyklika Laudato si’ als auch in der diesjährigen Ansprache an die Mitglieder des Diplomatischen Korps habe ich die Aufmerksamkeit auf die globalen Herausforderungen gelenkt, die die Menschheit zu bewältigen hat: ganzheitliche Entwicklung, Frieden, Sorge um das gemeinsame Haus, Klimawandel, Armut, Kriege, Migration, Menschenhandel, Organhandel, Schutz des Gemeinwohls, neue Formen der Versklavung. Beim heiligen Thomas gibt es einen schönen Gedanken hinsichtlich dessen, was ein Volk ist: »Wie die Seine als Fluss nicht von dem in ihr fließenden Wasser bestimmt wird, sondern von einem präzisen Ursprung und Flussbett, so wird sie immer als derselbe Fluss betrachtet, obwohl das Wasser, das fließt, ein anderes ist; und so ist ein Volk dasselbe nicht wegen der Identität einer Seele oder der Menschen, sondern aufgrund der Identität des Territoriums, oder noch mehr, der Gesetze und der Lebensweise, wie Aristoteles im dritten Buch der Politik sagt« (De spiritualibus creaturis, a. 9, ad 10). Die Kirche hat stets dazu ermahnt, das eigene Volk, die Heimat zu lieben, den Schatz der verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen, die in den Völkern verwurzelten Traditionen und Bräuche und rechten Lebensweisen zu achten. Zugleich hat die Kirche die Personen,

Völker und Regierungen vor Fehlformen dieser Verbundenheit gewarnt, etwa wenn sie in Ausgrenzung und Hass gegenüber den anderen mündet, wenn sie zu konfliktgeladenem Nationalismus wird, der Mauern errichtet, oder sogar zu Rassismus und Antisemitismus. Mit Sorge beobachtet die Kirche, dass überall auf der Welt aggressive Strömungen wieder aufleben, die sich gegen Fremde, besonders Immigranten, richten sowie einen wachsenden Nationalismus, der das Gemeinwohl missachtet. So besteht das Risiko, dass bereits konsolidierte Formen internationaler Zusammenarbeit in Mitleidenschaft gezogen werden; so werden die Ziele internationaler Organisationen als Orte des Dialogs und der Begegnung für alle Länder auf der Ebene gegenseitigen Respekts untergraben; so wird das Erreichen der Ziele für nachhaltige Entwicklung behindert, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 25. September 2015 einstimmig angenommen wurden.

Es ist allgemeine Lehre, dass der Staat im Dienst des Menschen und der natürlichen Personengruppen steht, wie die Familie, die Kulturgemeinschaft, die Nation als Ausdruck des gemeinsamen Willens und der tief verankerten Bräuche eines Volkes, im Dienst des Gemeinwohls und des Friedens. Dennoch werden die Staaten allzu oft – meist aus Gründen ökonomischen Profits – den Interessen einer herrschenden Gruppe unterworfen, die unter anderem sich auf dem staatlichen Hoheitsgebiet befindende ethnische, linguistische oder religiöse Minderheiten unterdrückt.

Aus dieser Perspektive offenbart beispielsweise die Art und Weise, wie eine Nation Migranten aufnimmt, ihre Sicht der Menschenwürde und ihr Verhältnis zur Menschheit. Jede menschliche Person ist ein Glied der Menschheit und hat dieselbe Würde. Wenn eine Person oder eine Familie gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen, muss sie mit Menschlichkeit aufgenommen werden. Bereits mehrmals habe ich gesagt, dass unsere Pflichten gegenüber den Migranten mit vier Verben verknüpft sind: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren. Der Migrant ist keine Bedrohung für die Kultur, die Bräuche und die Werte jener Nation, die ihn aufnimmt. Auch er hat eine Pflicht: die Pflicht sich in die Nation, die ihn aufnimmt, zu integrieren. Integrieren bedeutet nicht angleichen, sondern die Lebensweise seiner neuen Heimat zu teilen und doch als Person derselbe zu bleiben, Träger einer eigenen biographischen Geschichte. Auf diese Weise kann der Migrant sich als Chance zu einer Bereicherung des ihn integrierenden Volkes erweisen und anerkannt werden. Es ist Aufgabe der staatlichen Stellen, die Migranten zu schützen und die Migrationsströme unter Einsatz der Tugend der Klugheit zu regulieren wie auch die Aufnahme so zu unterstützen, dass die örtliche Bevölkerung geschult und ermutigt wird, bewusst  am Integrationsprozess der aufgenommenen Migranten teilzunehmen.

Die Frage der Migration, die ein fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte ist, regt auch die Reflexion über das Wesen des Nationalstaates an. Alle Nationen sind das Ergebnis der Integration von aufeinanderfolgenden Wellen von Migranten als Einzelpersonen oder Gruppen und sind tendenziell ein Bild für die Verschiedenheit der Menschheit, während sie zugleich durch gemeinsame Werte, kulturelle Ressourcen und bewährte Bräuche vereint sind. Ein Staat, der die nationalistischen Gefühle des eigenen Volkes gegen andere Nationen oder Personengruppen schürt, würde seinem Auftrag nicht gerecht. Wir wissen aus der Geschichte, wohin solche Entgleisungen führen; ich denke an das Europa des vergangenen Jahrhunderts.

Der Nationalstaat darf nicht als Absolutum betrachtet werden, als Insel in Bezug auf den umliegenden Kontext. In der aktuellen Situation der Globalisierung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch des technologischen und kulturellen Austauschs, ist der Nationalstaat nicht länger in der Lage, selbständig das Gemeinwohl für seine Bewohner zu gewährleisten. Das Gemeinwohl ist global geworden und die Nationen müssen sich zu ihrem eigenen Nutzen zusammenschließen. Wenn ein supranationales Gemeinwohl klar erkannt worden ist, dann ist eine übereinstimmend eingerichtete juristisch zuständige Stelle notwendig, die dessen Umsetzung zu fördern vermag. Denken wir an die großen zeitgenössischen Herausforderungen des Klimawandels, der neuen Formen der Sklaverei und des Friedens.

Während dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend den einzelnen Nationen die Möglichkeit zuerkannt werden muss, das ihnen Mögliche zu tun, können andererseits Gruppen von Nachbarstaaten – wie bereits geschehen – ihre Zusammenarbeit verstärken, indem sie die Ausübung bestimmter Funktionen und Dienstleistungen zwischenstaatlichen Institutionen übertragen, die ihre gemeinsamen Interessen verwalten. Es wäre zum Beispiel wünschenswert, dass man in Europa nicht das Bewusstsein dafür verliert, welche Vorteile dieser Weg der Annäherung und Eintracht zwischen den Völkern in der Nachkriegszeit gebracht hat. In Lateinamerika drängte Simón Bolivar die politischen Führer seiner Zeit, den Traum eines »Großen Vaterlandes« Gestalt werden zu lassen, das den Reichtum eines jeden Volkes anzunehmen, zu achten, sich anzueignen und zu entwickeln weiß und vermag. Diese Sicht einer Zusammenarbeit zwischen den Nationen kann die Geschichte bewegen, indem sie die Multilateralität neu belebt, die sowohl dem neuen nationalistischen Druck als auch der hegemonialen Politik entgegengesetzt ist.

Die Menschheit würde so das Risiko bewaffneter Konflikte ausräumen, das jedes Mal entsteht, wenn es zu einem Streit zwischen Nationalstaaten kommt. Sie würde ebenso die Gefahr der wirtschaftlichen und ideologischen Kolonialisierung durch Supermächte bannen, indem die Unterdrückung des Schwächeren durch den Stärkeren vermieden und der globalen Dimension Aufmerksamkeit geschenkt würde, ohne dabei die lokale, nationale und regionale Dimension aus den Augen zu verlieren. Angesichts des Plans einer als »kugelförmig« gedachten Globalisierung, die die Unterschiede einebnet und das Lokale verdrängt, können sowohl die Nationalismen als auch die hegemonialen Imperialismen leicht wieder emporkommen. Damit die Globalisierung allen nützt, muss man sie in »polyedrischer Form« denken und verwirklichen, indem man ein gesundes Ringen um die gegenseitige Anerkennung der kollektiven Identität jeden Volkes, jeder Nation auf der einen und der Globalisierung auf der anderen Seite unterstützt, gemäß dem Prinzip, dass das Ganze Vorrang vor den Teilen hat und man so einen allgemeinen Zustand von Frieden und Eintracht erreicht.

Multilaterale Einrichtungen wurden in der Hoffnung geschaffen, die Logik der Rache, die Logik der Herrschaft, der Unterdrückung und des Konflikts durch die Logik des Dialogs, der Vermittlung, des Kompromisses, der Eintracht ersetzen zu können sowie durch das Bewusstsein, zur gleichen Menschheit im gemeinsamen Haus zu gehören. Gewiss müssen diese Einrichtungen sicherstellen, dass die Staaten effektiv, mit denselben Rechten und Pflichten, repräsentiert werden, um eine wachsende Hegemonie von Mächten und Interessengruppen zu vermeiden, die die eigenen Sichtweisen und Vorstellungen aufzwingen wollen, und um neue Formen der ideologischen Kolonialisierung zu umgehen, die oft keine Rücksicht nehmen auf die Identität, die Bräuche und Gewohnheiten, die Würde und die Mentalität der betroffenen Völker. Das Aufkommen derartiger Tendenzen ist gerade dabei, das multilaterale System zu schwächen, was zu mangelnder Glaubwürdigkeit in der internationalen Politik und zu einer fortschreitenden Marginalisierung der schwächsten Mitglieder der Völkerfamilie führt.

Ich ermutige Sie, die Suche nach Prozessen zur Überwindung dessen, was die Nationen spaltet, beharrlich fortzusetzen und neue Wege der Zusammenarbeit vorzuschlagen, insbesondere im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen des Klimawandels und der neuen Formen der Sklaverei sowie im Hinblick auf das höchste soziale Gut, den Frieden. Leider scheint heute die Zeit der multilateralen nuklearen Abrüstung vorbei zu sein; sie weckt nicht mehr das politische Gewissen der Nationen, die Atomwaffen besitzen. Vielmehr scheint sich eine neue Zeit atomarer Auseinandersetzungen abzuzeichnen, was beunruhigend ist, weil das die Fortschritte der jüngsten Vergangenheit zunichte macht und die Kriegsgefahr erhöht, auch aufgrund der möglichen Fehlfunktion einer hochentwickelten Technik, die aber stets natürlichen und menschlichen Unwägbarkeiten unterworfen ist. Wenn jetzt nicht nur auf der Erde, sondern auch im Weltraum Atomwaffen zu Angriff und Verteidigung platziert werden, dann würde die sogenannte neue »technologische Front« die Gefahr eines nuklearen Holocausts erhöhen und nicht senken.

Der Staat ist daher zu größerem Verantwortungsbewusstsein aufgerufen. Unter Beibehaltung der Merkmale Unabhängigkeit und Souveränität sowie des Einsatzes für das Wohl der eigenen Bevölkerung hat der Staat heute auch die Aufgabe, sich am Aufbau des Gemeinwohls der Menschheit zu beteiligen, welches ein notwendiges und grundlegendes Element für das globale Gleichgewicht darstellt. Dieses universale Gemeinwohl wiederum muss auf internationaler Ebene einen höheren rechtlichen Wert erlangen. Ich denke dabei sicherlich nicht an einen Universalismus oder einen generellen Internationalismus, der die Identität der einzelnen Völker vernachlässigt: Diese Identität muss nämlich immer als einzigartiger und unverzichtbarer Beitrag in einem größeren harmonischen Plan wertgeschätzt werden.

Liebe Freunde, als Bürger unserer Zeit, als Christen und Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften, bitte ich Sie, bei der Verbreitung dieses Bewusstseins einer erneuerten internationalen Solidarität unter Achtung der Menschenwürde, des Gemeinwohls, des Planeten Erde und des höchsten Gutes des Friedens mit mir zusammenzuarbeiten. Ich segne Sie alle, ich segne Ihre Arbeit und Ihre Initiativen. Ich begleite Sie mit meinem Gebet, und vergessen auch Sie bitte nicht, für mich zu beten. Danke!

 

 


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