APOSTOLISCHE REISE VON PAPST FRANZISKUS
NACH MAROKKO
[30.-31. MÄRZ 2019]
PRESSEKONFERENZ MIT DEM HEILIGEN VATER
AUF DEM RÜCKFLUG VON RABAT NACH ROM
Sonntag, 31. März 2019
Alessandro Gisotti:
Guten Abend, Heiliger Vater, guten Abend Ihnen allen. Der Flug ist kürzer als geplant, aber ich denke, es wird auch Ihnen gefallen, leichter nach Hause zu kommen; also wird auch die Pressekonferenz etwas kürzer sein. Deswegen füge ich als Einleitung nichts mehr hinzu, außer dies: Heiliger Vater, gestern war die Rede von „Diener der Hoffnung“, wir haben die Freude, die Hoffnung, sehr viele junge Menschen gesehen, und dies ist schön wenige Tage nach der Unterzeichnung des Schreibens Christus vivit, das in zwei Tagen veröffentlicht wird; so ist das auch ein schönes Zeichen, das von Marokko kommt. Ich weiß nicht, ob auch Sie etwas dazu sagen wollen, bevor wir zu den Fragen übergehen.
Papst Franziskus:
Ich danke Ihnen für die Begleitung, für die Reise, für Ihre Arbeit; es war sehr anstrengend, denn in anderthalb Tagen gab es sehr vieles. Danke für Ihre Arbeit. Und nun stehe ich Ihnen zu Diensten.
Alessandro Gisotti:
Wie es Tradition ist, fangen wir natürlich bei den lokalen Medien an. Siham Toufiki, möchten Sie Ihre Frage auf Französisch oder auf Englisch stellen?
Siham Toufiki (Agentur Map):
Auf Französisch. Während dieses Besuchs gab es sehr eindrucksvolle Momente und einprägsame Botschaften. Dieser Besuch ist ein außergewöhnliches, historisches Ereignis für das marokkanische Volk. Meine Frage ist: Welche Früchte wird dieser Besuch tragen für die Zukunft, für den Frieden in der Welt, für das Zusammenleben im Dialog der Kulturen?
Papst Franziskus:
Ich würde sagen, jetzt gibt es Blüten, die Früchte werden später kommen! Doch die Blüten sind vielversprechend. Ich bin froh, dass ich auf diesen beiden Reisen [in die Vereinigten Arabischen Emirate und nach Marokko] über das sprechen konnte, was mir sehr, sehr am Herzen liegt, nämlich Friede, Einheit und Brüderlichkeit. Mit den muslimischen Brüdern und Schwestern haben wir diese Brüderlichkeit im Dokument von Abu Dhabi besiegelt, und hier in Marokko mit dem, was wir alle gesehen haben: Freiheit, Brüderlichkeit, Aufnahme; alle sind Brüder und Schwestern mit sehr großer Achtung. Und das ist eine schöne „Blüte“, eine schöne Blüte des Zusammenlebens, die Früchte verspricht. Wir dürfen nicht lockerlassen! Es stimmt, dass es weiter Schwierigkeiten geben wird, es wird viele Schwierigkeiten geben, weil es intransigente Gruppen gibt. Auch das möchte ich noch einmal klar betonen: In jeder Religion gibt es immer eine fundamentalistische Gruppe, die nicht voranschreiten will und von bitteren Erinnerungen an vergangene Schlachten lebt und eher Krieg sucht und Angst sät. Wir haben gesehen, dass es schöner ist, Hoffnung zu säen – Hoffnung zu säen und Hand in Hand zu gehen, immer weiter. Wir haben gesehen, dass beim Dialog mit Ihnen hier in Marokko Brücken nötig sind, und es erfüllt uns mit Schmerz, wenn wir Menschen sehen, die lieber Mauern bauen. Warum erfüllt es uns mit Schmerz? Weil die, die Mauern bauen, am Ende Gefangene der von ihnen gebauten Mauern sind. Wer dagegen Brücken baut, kommt viel weiter. Brücken zu bauen ist für mich etwas, das gewissermaßen über das Menschliche hinausgeht, weil es sehr große Anstrengung braucht. Mich hat ein Wort des Schriftstellers Ivo Andrić in seinem Roman Die Brücke über die Drina sehr berührt. Er sagt, dass die Brücke von Gott mit den Flügeln der Engel gebaut wurde, damit die Menschen verbunden sind zwischen den Bergen und den Ufern des Flusses, damit sie untereinander kommunizieren. Die Brücke dient der menschlichen Kommunikation. Dies ist wunderschön und das habe ich in Marokko gesehen. Mauern stattdessen sind gegen die Kommunikation, sie dienen der Isolation und man wird zum Gefangenen dieser Mauern … Also, kurz gesagt: Die Früchte sieht man noch nicht, doch man sieht viele Blüten, die Früchte tragen werden. Gehen wir weiter in diese Richtung.
Alessandro Gisotti:
Heiliger Vater, eine andere Frage der Medien in Marokko, Nahia Hammouchi.
Nadia Hammouchi (TV 2M):
Eure Heiligkeit, Sie waren für zwei Tage in einem Land des Islam. Sie sind das Oberhaupt der Katholischen Kirche, Sie haben den König von Marokko getroffen, der auch der „Befehlshaber der Gläubigen“ ist. Sie hatten also Zeit, sich auszutauschen, miteinander über diese notwendige Annäherung zwischen Religionen und Kulturen zu sprechen, und Sie haben auch etwas Konkretes in Bezug auf Jerusalem unterzeichnet. Inwieweit kann dieser Besuch mit all seinen eindrucksvollen Momenten diesen Dialog stärken, diesen Schwung und diese Beziehung zwischen dem Oberhaupt der Katholischen Kirche und dem Kommando der Gläubigen in Marokko.
Papst Franziskus:
Wenn es einen brüderlichen Dialog gibt, besteht immer eine Beziehung auf verschiedenen Ebenen. Lassen Sie mich ein Bild verwenden: Der Dialog kann nicht wie in einem „Labor“ geschehen, er muss menschlich sein; und wenn er menschlich ist, dann erfolgt er mit Kopf, Herz und Händen, und so werden Verträge gemacht und unterzeichnet. Der gemeinsame Appell zu Jerusalem, zum Beispiel, war ein Schritt vorwärts, der nicht von einem offiziellen Vertreter Marokkos und von einem offiziellen Vertreter des Vatikans, sondern von zwei gläubigen Brüdern gemacht wurde, die darunter leiden, diese „Stadt der Hoffnung“ noch nicht so universal zu sehen, wie wir uns alle es wünschen: Juden, Moslems und Christen. Wir alle wollen es. Und daher haben wir diesen Ausdruck unserer Hoffnung unterzeichnet: mehr als eine Vereinbarung ist es ein Wunsch, ein Aufruf zu religiöser Brüderlichkeit, die von dieser Stadt symbolisiert wird, die ganz „unsere“ ist. Alle sind wir Bürger Jerusalems, alle Glaubenden. Ich weiß nicht, ob das die Frage war, die Sie mir stellen wollten. Mir hat auch das Treffen mit einigen geistlichen Führern gefallen, die Achtung entgegenbringen und den Dialog wünschen. Ihre geistlichen Führer sind brüderlich, sind offen, und das ist eine Gnade. Gehen wir auf diesem Weg weiter vorwärts.
Alessandro Gisotti:
Heiliger Vater, nun stellt Ihnen Nicolas Senèze von La Croix eine Frage.
Nicolas Seneze (La Croix):
Guten Abend, Heiliger Vater. Gestern hat der König von Marokko gesagt, dass er die marokkanischen Juden und die Christen aus anderen Ländern, die in Marokko leben, beschützen wird. Meine Frage betrifft die Moslems, die zum Christentum konvertieren: Ich wollte wissen, ob Sie um diese Männer und Frauen besorgt sind, die eine Gefängnisstrafe oder – in manchen muslimischen Ländern wie den Emiraten, die Sie besucht haben – den Tod riskieren? Und auch eine – etwas listige – Frage über Kardinal Barbarin, der in Rabat geboren ist, das wir für zwei Tage besucht haben …
Alessandro Gisotti:
Eine Frage!
Nicolas Seneze:
… sie ist etwas listig, ich weiß. Diese Woche hat sich der Rat der Diözese Lion fast einstimmig dafür ausgesprochen, dass eine dauerhafte Lösung gefunden werde, wenn er sich zurückzieht. Lassen wir den Ausgang vor Gericht für den Kardinal beiseite, so würde ich gerne wissen, ob es für Sie möglich ist, der Sie der Synodalität der Kirche sehr zugetan sind, auf diesen Aufruf einer Diözese zu hören, die in einer so schwierigen Situation ist?
Papst Franziskus:
Ich kann sagen, dass es in Marokko Kultusfreiheit, Religionsfreiheit, Bekenntnisfreiheit gibt. Dann entwickelt sich die Freiheit immer, sie wächst … Denken Sie an uns Christen, ob es vor 300 Jahren diese Freiheit gab, die wir heute haben. Der Glaube wächst im Bewusstsein, in der Fähigkeit, sich selbst zu verstehen. Ein französischer Mönch aus dem 5. Jahrhundert, Vinzenz von Lérins, hat einen wunderschönen Ausdruck geprägt, um zu erklären, wie man im Glauben wachsen, die Dinge besser erklären, auch in der Moral wachsen kann, dabei aber stets den Wurzeln treu ist. Er hat drei Worte gesagt, die uns jedoch den Weg weisen: Er sagt, das Wachsen in der Entfaltung und im Bewusstsein des Glaubens und der Moral muss derart sein, ut annis consolidetur, dilatetur tempore, sublimetur aetate, d.h. das Wachstum muss in den Jahren gefestigt werden, in der Zeit ausgeweitet, aber der Glaube selbst es ist, der über die Jahre hinweg erhöht wird. So versteht man beispielsweise, dass wir heute aus dem Katechismus der Katholischen Kirche die Todesstrafe gestrichen haben. Vor 300 Jahren hat man Häretiker lebendig verbrannt. Denn die Kirche hat in ihrem moralischen Bewusstsein, in der Achtung der Person zugenommen. Und die Kultusfreiheit wächst ebenso, auch wir müssen weiter wachsen. Es gibt Katholiken, die nicht akzeptieren, was das II. Vaticanum über die Kultusfreiheit, über die Gewissensfreiheit gesagt hat. Es gibt Katholiken, die das nicht annehmen. Auch wir haben dieses Problem. Doch auch die muslimischen Brüder wachsen im Bewusstsein, und einige Länder verstehen das nicht gut oder wachsen nicht wie andere. In Marokko gibt es dieses Wachstum. In diesem Rahmen gibt es das Problem der Konversion: Einige Länder sehen sie noch nicht vor. Ich weiß nicht, ob sie verboten ist, aber praktisch ist es so. Andere Länder, wie Marokko, machen keine Probleme – sie sind offener, respektvoller und suchen einen gewissen Weg, hier mit Augenmaß weiterzumachen. Wieder andere Länder, mit deren Vertretern ich gesprochen habe, sagen: Wir haben kein Problem damit, aber es ist uns lieber, dass die Taufe außerhalb des Landes stattfindet und sie als Christen zurückkehren. Es sind Arten, in der Religionsfreiheit und der Kultusfreiheit voranzuschreiten. Doch ich mache mir Sorgen um etwas anderes: der Rückschritt bei uns Christen, wenn wir die Gewissensfreiheit aufheben. Denken Sie an die Ärzte und christlichen Krankenhauseinrichtungen, die kein Recht auf die Verweigerung aus Gewissensgründen haben, zum Beispiel bei Euthanasie? – Wie? Die Kirche ist fortgeschritten und ihr christliche Länder geht rückwärts? – Denken Sie daran, weil das eine Wahrheit ist. Heute laufen wir Christen Gefahr, dass uns einige Regierungen die Gewissensfreiheit wegnehmen, die der erste Schritt für die Kultusfreiheit ist. Die Antwort darauf ist nicht einfach, aber beschuldigen wir nicht die Muslime, klagen wir uns selbst wegen dieser Länder an, in denen das geschieht und wofür wir uns schämen müssen.
Dann zu Kardinal Barbarin. Als Mann der Kirche hat er seinen Rücktritt eingereicht, aber ich kann diesen moralisch nicht annehmen, denn rechtlich gesehen, auch in der klassischen weltlichen Rechtsprechung, besteht die Unschuldsvermutung während eines laufenden Verfahrens. Er hat Berufung eingelegt und der Fall ist offen. Wenn das zweite Gericht das Urteil verkündet, werden wir sehen, was passiert. Aber es gilt immer die Unschuldsvermutung. Das ist wichtig, denn das steht der oberflächlichen Verurteilung durch die Medien entgegen: „Er hat das getan …“ Aber man achte darauf: Was sagt die Rechtsprechung? Dass, wenn ein Verfahren läuft, die Unschuldsvermutung besteht. Vielleicht ist er nicht unschuldig, aber es gilt die Unschuldsvermutung. Einmal habe ich über einen Fall in Spanien gesprochen, wie die mediale Verurteilung das Leben einiger Priester ruiniert hat, die dann für unschuldig befunden wurden. Bevor man eine mediale Verurteilung macht, sollte man es sich zweimal überlegen. Ich weiß nicht, ob ich geantwortet habe. Er [der Kardinal] hat ehrlicherweise vorgezogen zu sagen: „Ich ziehe mich zurück, ich nehme eine freiwillige Beurlaubung und lasse den Generalvikar die Erzdiözese verwalten, bis das Gericht das endgültige Urteil gefällt hat. Verstanden? Danke.
Alessandro Gisotti:
Ich bitte um Kürze und um nur eine einzige Frage aus Rücksicht auf alle Sprachgruppen. Hier ist Cristina Cabrejans von Efe.
Cristina Cabrejas (Agentur Efe):
Buenas tardes, Papa Francisco. Ich stelle die Frage auf Italienisch. In Ihrer gestrigen Rede vor den Vertretern des öffentlichen Lebens haben Sie betont, dass das Phänomen der Migration nicht durch physische Barrieren gelöst wird. Hier in Marokko aber hat Spanien zwei Grenzzäune mit Klingendraht gebaut, der die verletzt, die sie überschreiten wollen. Sie haben einige von ihnen bei mancher Begegnung kennengelernt. Und Präsident Trump hat vor einigen Tagen gesagt, dass er die Grenzen vollständig schließen und darüber hinaus Unterstützung für drei zentralamerikanische Länder aussetzen wolle. Was möchten Sie diesen Regierenden, diesen Politikern sagen, die diese Entscheidungen weiterhin verteidigen? Danke.
Papst Franziskus:
Vor allem das, was ich eben vorhin gesagt habe: Die Erbauer von Mauern, seien sie mit Klingendraht oder aus Ziegelsteinen, werden Gefangene der Mauern werden, die sie errichten. Erster Punkt. Die Geschichte wird es zeigen. Zweitens: Als mich Jordi Évole interviewte, zeigte er mir ein Stück dieses Klingendrahts. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich war bewegt, und als er dann gegangen ist, habe ich geweint. Ich habe geweint, weil mir so viel Grausamkeit nicht in den Kopf und ins Herz hineingeht. Es geht mir nicht in den Kopf und ins Herz, sehen zu müssen, wie jemand im Mittelmeer ertrinkt und um Häfen Mauern hochgezogen werden. Dies ist nicht die Art und Weise, um das schwerwiegende Problem der Migration zu lösen. Ich verstehe – eine Regierung hat mit diesem Problem eine „heiße Kartoffel“ in der Hand, aber sie muss dies anders lösen, menschlich lösen. Als ich diesen Klingendraht gesehen habe, konnte ich es kaum glauben. Einmal hatte ich dann die Gelegenheit, eine Filmreportage anzuschauen, die in einem Gefängnis über Flüchtlinge gedreht wurde, die zurückgewiesen werden. Inoffizielle Gefängnisse, Gefängnisse von Schleppern. Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen zuschicken. Die Schlepper lassen leiden, sie quälen. Da werden Frauen und Kinder verkauft, die Männer bleiben. Und die Folterungen, die man dort im Film sieht, sind unglaublich. Es war ein versteckt gedrehter Film, mit den Dienststellen. „So, hier lasse ich nicht hinein, das stimmt, weil ich keinen Platz habe, aber es gibt andere Länder, es gibt die Europäische Union.“ Man muss reden, die gesamte Europäische Union: Lasse ich sie nicht herein und lasse ich sie ertrinken oder schicke ich sie weg, obwohl ich weiß, dass viele von ihnen in die Hände dieser Menschenhändler fallen werden, welche die Frauen und Kinder verkaufen werden, und die Männer töten werden oder foltern, um sie zu Sklaven zu machen? Diese Filmreportage steht Ihnen zur Verfügung. Ich habe einmal mit einem Regierenden gesprochen, einem Mann, den ich respektiere und dessen Name ich nenne, mit Alexis Tsipras. Und als wir darüber und über die Vereinbarungen, um niemanden hereineinkommen zu lassen, sprachen, hat er mir die Schwierigkeiten erklärt, doch am Ende hat er von Herzen zu mir gesprochen und diesen Satz gesagt: „Menschenrechte gehen vor Vereinbarungen.“ Dieser Satz verdient den Nobelpreis.
Alessandro Gisotti:
Die nächste Frage stellt Michael Schramm von der ARD.
Michael Werner Schramm (ARD Rom):
Ich muss mich entschuldigen, mein Italienisch ist nicht gut, entschuldigen Sie bitte. Meine Frage: Seit vielen Jahren kämpfen Sie für den Schutz und die Unterstützung von Migranten, wie Sie es in den letzten Tagen in Marokko getan haben. Die europäische Politik geht genau in die entgegengesetzte Richtung. Europa wird zu einer Art Bastion gegen die Migranten. Diese Politik spiegelt die Ansicht der Wähler wider. Die Mehrheit dieser Wähler sind katholische Christen. Wie geht es Ihnen mit dieser traurigen Situation?
Papst Franziskus:
Es stimmt, dass viele Menschen guten Willens, nicht nur Katholiken, aber gute Leute, Menschen guten Willens ein wenig verängstigt sind, entsprechend dem, was die Populisten immer „predigen“: Angst. Man sät Angst und trifft dann Entscheidungen. Die Angst steht am Beginn von Diktaturen. Schauen wir auf das letzte Jahrhundert, auf den Untergang der Weimarer Republik, das wiederhole ich oft. Deutschland brauchte einen Ausweg und Hitler war mit seinen Versprechungen und durch die Ängste der Menschen erfolgreich. Wir kennen das Ergebnis. Lernen wir aus der Geschichte! Das ist nichts Neues: Angst säen bedeutet Grausamkeit, Verschlossenheit und auch Unfruchtbarkeit ernten. Denken Sie an den demographischen Winter in Europa. Auch wir, die wir in Italien leben: [Geburtenrate] unter null. Denken Sie an die mangelnde Erinnerung an die Geschichte: Europa entstand durch Migration und das ist sein Reichtum. Denken wir an die Großzügigkeit vieler Länder, die heute an Europas Tür klopfen, an die europäischen Migranten, die in den beiden Nachkriegszeiten in Massen nach Nord-, Zentral-, und Südamerika kamen. Mein Vater ging nach dem [Ersten Welt-]Krieg dorthin und wurde aufgenommen. Auch Europa könnte ein wenig Dankbarkeit zeigen ... Ich würde zwei Dinge sagen. Es ist wahr, dass die erste Aufgabe, die wir zu erfüllen haben, darin besteht, sicherzustellen, dass Menschen, die aufgrund von Krieg oder Hunger wegziehen, diese Notwendigkeit gar nicht erst haben. Aber wenn ein so großzügiges Europa dem Jemen Waffen verkauft, die Kinder töten, wie kann Europa da kohärent sein? Dies ist ein Beispiel, Europa verkauft Waffen. Dann gibt es noch das Problem des Hungers, des Durstes. Wenn Europa eine „Mutter“ und nicht eine „Großmutter“ sein will, muss es investieren, muss es auf intelligente Weise versuchen, durch Bildung und durch Investitionen Wachstum zu fördern. Das stammt nicht von mir, das sagte Kanzlerin Merkel. Das ist etwas, das sie selbst ziemlich vorantreibt: die Auswanderung nicht mit Gewalt unterbinden, sondern durch Großzügigkeit, durch Bildungs- und Wirtschaftsinvestitionen usw., und das ist sehr wichtig. Und das Zweite, wie soll man handeln: Es stimmt, dass ein Land nicht alle aufnehmen kann, aber da ist ganz Europa, wo man die Migranten verteilen kann, ganz Europa. Da die Aufnahme offenen Herzens erfolgen muss, geht es dann darum zu begleiten, zu fördern und zu integrieren. Wenn ein Land [die Migranten] nicht integrieren kann, sollte es sofort daran denken, mit anderen Ländern zu sprechen: „Wie viele kannst du integrieren?“, um den Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Ein weiteres Beispiel – das ich in der Zeit der Diktaturen am eigenen Leib erlebt habe, während der Operation Condor in Buenos Aires – in Lateinamerika: Argentinien, Chile und Uruguay. Es war Schweden, das mit beeindruckender Großzügigkeit Menschen aufnahm. Sie lernten sofort die Sprache, worum der Staat sich kümmerte, und sie fanden Arbeit und ein Zuhause. Schweden hat momentan wohl ein wenig Schwierigkeiten mit der Integration, aber es sagt das und bittet um Hilfe. Als ich in Lund war, letztes oder vorletztes Jahr, ich erinnere mich nicht genau, empfing mich der Premierminister, aber dann war da bei der Abschiedszeremonie eine Ministerin, eine junge Ministerin, ich glaube die Bildungsministerin, die etwas dunkelhäutig war, weil sie die Tochter einer Schwedin und eines afrikanischen Migranten war: so integriert ein Land, das ich als Beispiel nehme, Schweden. Aber dafür braucht es Großzügigkeit, muss man voranschreiten. Mit Angst werden wir nicht voranschreiten, mit Mauern bleiben wir in diesen Mauern eingeschlossen ... Ich halte eine Predigt, entschuldigen Sie!
Alessandro Gisotti:
Jetzt eine Frage von Cristiana Caricato von TV2000.
Christiana Caricato (TV2000):
Heiliger Vater, Sie haben gerade über Ängste und die Gefahr von Diktaturen gesprochen, die aus solchen Ängsten entstehen können. Erst heute hat ein italienischer Minister in Bezug auf den Kongress in Verona gesagt, dass man mehr als um die Familie Angst vor dem Islam haben muss. Sie hingegen sagen schon seit Jahren etwas anderes. Glauben Sie, dass unserem Land eine Diktatur droht? Ist das die Frucht von Vorurteilen aus Unwissenheit? Was denken sie darüber? Und dann eine Frage aus Neugierde: Sie klagen oft das Handeln des Teufels an, wie etwa vor kurzem auf dem Gipfel zum Schutz von Minderjährigen. Es scheint mir, dass er in der letzten Zeit sehr aktiv ist, dass sich der Teufel in letzter Zeit recht viel Mühe gegeben hat, auch in der Kirche ... Was kann man gegen ihn tun, besonders was die Pädophilie-Skandale betrifft, sind da Gesetze ausreichend? Warum ist der Teufel zurzeit so aktiv?
Papst Franziskus:
Sehr gut. Danke für die Frage. Eine Zeitung sagte nach meiner Rede am Ende des Treffens der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen zum Schutz von Minderjährigen: „Der Papst war schlau. Zuerst sagte er, dass Pädophilie ein weltweites Problem sei, eine weltweite Plage; dann sagte er etwas über die Kirche, am Ende wusch er seine Hände in Unschuld und gab die Schuld dem Teufel.“ Etwas oberflächlich vereinfachend, nicht wahr? Diese Ansprache ist eindeutig. Ein französischer Philosoph traf in den siebziger Jahren eine Unterscheidung, die mir viel Klarheit brachte, er hieß [Philippe] Roqueplo und hat mir hermeneutische Klarheit gebracht. Er sagte: Um eine Situation zu verstehen, muss man alle Erklärungen geben und dann nach den Bedeutungen suchen: Was bedeutet das auf der sozialen, was bedeutet es auf der persönlichen oder religiösen Ebene? Ich versuche, alle Erklärungen zu geben, auch die Maßstäbe für diese Erklärungen, aber es gibt einen Punkt, da kann man es ohne das Geheimnis des Bösen nicht verstehen. Denken Sie an Kinderpornographie im Netz. Dazu gab es zwei wichtige Konferenzen, eine in Rom und die andere in Abu Dhabi. Ich frage mich, wie das geschehen konnte, dass dieses Phänomen zu einer Alltags-Realität werden konnte. Wie ist das möglich? Und ich spreche von seriösen Statistiken. Wie kann das sein, dass man, wenn man live sexuellen Kindesmissbrauch sehen wollte, einfach auf so eine Kinderpornographie-Seite gehen kann und man das dann sehen kann. Schauen Sie, ich erzähle keine Lügen, so steht es in den Statistiken. Ich frage mich: Können die Verantwortlichen für die öffentliche Ordnung nichts dagegen unternehmen? Wir in der Kirche werden alles tun, um diese Plage zu beenden, wir werden alles tun. Und ich habe in dieser Rede konkrete Maßnahmen genannt. Es gab welche schon vor dem Gipfel, als mir die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen die Liste gaben, die ich euch allen gegeben habe. Aber sind die Leute, die für diesen Schmutz verantwortlich sind, unschuldig? Diejenigen, die damit Geld verdienen? In Buenos Aires haben wir einmal mit zwei Mitgliedern des Stadtrats, nicht der Staatsregierung, eine Verordnung gemacht, eine Verfügung, nicht ein Gesetz, sondern eine unverbindliche Verfügung für Luxushotels, die besagte, dass an der Rezeption [folgende Bekanntmachung] zu lesen sein sollte: „In diesem Hotel ist das amusement mit Minderjährigen nicht gestattet“. Niemand wollte das aufstellen. „Nein, weißt du, das geht nicht ... Das sieht so aus, als seien wir schmutzig ... Man weiß, dass wir das nicht tun, auch ohne dieses Schild.“ Kann beispielsweise eine Regierung nicht untersuchen lassen, wo diese Dinge mit Kindern gemacht werden? Alle wurden live gefilmt. Das nur, um zu sagen, dass diese weltweite Plage groß ist, aber auch, dass dies ohne den Geist des Bösen nicht verstanden werden kann, das ist ein echtes Problem. Wir müssen es in der Praxis lösen, aber wir müssen auch sagen, dass es der Geist des Bösen ist. Und um dies zu lösen, gibt es zwei Publikationen, die ich empfehle: einen Artikel von Gianni Valente, ich glaube auf „Vatican Insider“, wo er von den Donatisten spricht. Die Gefahr, dass die Kirche heute donatistisch wird, wenn sie menschliche Vorschriften erlässt, was sicher getan werden muss, aber dabei sich auf diese beschränkt und die anderen geistlichen Dimensionen vergisst, das Gebet, die Buße, die Selbstanklage, die wir gewöhnlich nicht machen. Es braucht beides! Denn um den Geist des Bösen zu überwinden, darf man nicht „die Hände in Unschuld waschen“ und sagen: „Das ist das Werk des Teufels“. Nein. Wir müssen sowohl gegen den Teufel kämpfen, wie wir auch gegen menschliche Dinge kämpfen müssen. Die andere Publikation ist aus der „Civiltà Cattolica“. Ich hatte 1987 ein Buch geschrieben, „Cartas de la tribulación“, mit Briefen des Jesuitengenerals aus der Zeit kurz vor der Auflösung des Ordens. Ich habe ein Vorwort geschrieben, und man hat jetzt eine Studie zu den Briefen gemacht, die ich an den chilenischen Episkopat und an das Volk von Chile geschrieben habe, wo es darum ging, wie man mit diesem Problem umgehen sollte: um die beiden Aspekte – den menschlichen, wissenschaftlichen und auch rechtlichen, um dieses Phänomen zu bekämpfen; und dann den geistlichen Aspekt. Das Gleiche habe ich mit den Bischöfen der Vereinigten Staaten getan, weil sich ihre Vorschläge zu sehr auf die Organisation und die Methoden konzentrierten und diese zweite geistliche Dimension ungewollt vernachlässigt wurde. Mit den Laien, mit allen ... Ich möchte Ihnen sagen: Die Kirche ist nicht eine Art „Freikirche“, sie ist eine katholische Kirche, in der der Bischof die Sache als Hirte in die Hand nehmen muss. Der Papst muss sie als Hirte in die Hand nehmen. Und wie? Mit disziplinären Maßnahmen, mit Gebet, Buße, Selbstanklage. Und in dem Brief, den ich geschrieben habe, bevor sie [die Bischöfe der Vereinigten Staaten] mit den geistlichen Exerzitien begannen, ist auch diese Dimension gut erklärt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie beides studieren würden: den menschlichen Aspekt und auch den des geistlichen Kampfes. Danke.
Alessandro Gisotti:
Wir haben die Zeit wirklich überschritten und es tut mir leid, aber es ist eine Pressekonferenz, die lang geworden ist …
Papst Franziskus:
[zu C. Caricatos anderer Frage:] Ich verstehe nichts von italienischer Politik, wirklich. Ich verstehe davon nichts ... Ich habe im „Espresso“ etwas von einem „Family Day“ gelesen. Ich weiß nicht, was es sein soll, ich weiß, es ist einer der vielen „Events“ ist, die veranstaltet werden .. Ich habe den Brief gelesen, den Kardinal Parolin geschickt hat, und ich stimme dem zu. Ein pastoraler Brief, höflich, aus dem Herzen eines Hirten. Aber zur italienischen Politik fragen Sie mich nicht, ich habe keine Ahnung. Danke.
Alessandro Gisotti:
Nur noch eine Minute für eine kleine Überraschung für zwei Kollegen, die gestern Geburtstag hatten: Phil Pullella und Gerard O’Connell, zwei großartige Kollegen. Und das ist ein kleines Geschenk von der Gemeinschaft Ihrer Kollegen und von uns allen.
Papst Franziskus:
Mir sagst du, er sei älter als ich ... Aber der hier ist 45 und der 50! Herzlichen Glückwunsch! Danke und eine gute Reise, ein schönes Abendessen und beten Sie bitte für mich. Danke!
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