ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE PROFESSOREN, STUDENTEN UND MITARBEITER
DES PÄPSTLICHEN INSTITUTS
"JOHANNES PAUL II." FÜR STUDIEN ZU EHE UND FAMILIE
Sala Clementina
Donnerstag, 27. Oktober 2016
Exzellenz,
Monsignore Direktor,
sehr geehrte Professoren,
liebe Studenten!
Es ist mir eine ganz besondere Freude, gemeinsam mit euch dieses neue Akademische Jahr des Päpstlichen Instituts »Johannes Paul II.« zu eröffnen, das 35. Jahr seit seiner Gründung. Ich danke dem Großkanzler, Erzbischof Vincenzo Paglia, und dem Direktor, Msgr. Pierangelo Sequeri, für ihre Worte und schließe in meinen Dank auch all jene ein, die das Institut geleitet haben.
1. Die weitsichtige Intuition des heiligen Johannes Paul II., der diese akademische Einrichtung sehr gewünscht hat, kann heute noch besser erkannt und in ihrer Fruchtbarkeit und Aktualität gewürdigt werden. Seine kluge Unterscheidung der Zeichen der Zeit hat die Aufmerksamkeit der Kirche und die der menschlichen Gesellschaft insgesamt erneut und nachdrücklich auf die Tiefe und Sensibilität jener Bande gelenkt, die durch den Ehebund von Mann und Frau hervorgebracht werden. Dass sich das Institut auf den fünf Kontinenten entwickelt hat, ist eine Bestätigung für die Gültigkeit und Bedeutung der »katholischen« Form seines Programms. Die Lebendigkeit dieses Projekts, das eine so hochqualifizierte Institution hervorgebracht hat, ermutigt zur Entwicklung von weiterführenden Initiativen des Gesprächs und Austauschs mit allen – auch zu anderen religiösen und kulturellen Räumen gehörenden – akademischen Institutionen, die sich heute in der Reflexion über diesen sehr verletzlichen Bereich des Menschlichen engagieren.
2. Unter den heutigen Rahmenbedingungen werden Ehe- und Familienbande in vielerlei Weise auf die Probe gestellt. Das Vorherrschen einer Kultur, die den narzisstischen Individualismus verherrlicht, eine von der Verantwortung für den Anderen losgelöste Auffassung von Freiheit, die wachsende Gleichgültigkeit dem Gemeinwohl gegenüber, die Durchsetzung von Ideologien, die das Projekt »Familie« direkt angreifen, wie auch die wachsende Armut, die die Zukunft vieler Familien bedroht, stellen ebenso viele Ursachen der Krise für die zeitgenössischen Familien dar. Daneben gibt es die Fragen, die der Fortschritt der neuen Technologien mit sich bringt, da sie Praktiken ermöglichen, die zuweilen im Widerspruch stehen zur wahren Würde des menschlichen Lebens. Die Komplexität dieser neuen Perspektiven legt eine engere Verbindung zwischen dem Institut Johannes Paul II. und der Päpstlichen Akademie für das Leben nahe. Ich fordere euch auf, diese neuen, heiklen Implikationen mit der notwendigen Konsequenz anzugehen: »Verfallt nicht der Versuchung, sie zu lackieren, zu parfümieren, sie ein wenig zurechtzurücken und sie einzufrieden« (Schreiben an den Großkanzler der Päpstlichen Katholischen Universität Argentiniens, 3. März 2015).
Unsicherheit und Desorientierung in den grundlegenden Beziehungen des Menschen und des Lebens sind ein Faktor der Destabilisierung für alle Bindungen, sowohl die familiären als auch die sozialen, da sie immer mehr das »Ich« über das »Wir«, das Individuum über die Gesellschaft stellen. Das ist ein Ergebnis, das im Widerspruch steht zum Plan Gottes, der die Welt und die Geschichte dem Bund von Mann und Frau anvertraut hat (Gen 1,28-31). Dieser Bund impliziert – seinem Wesen gemäß – Zusammenarbeit und Achtung, großherzige Hingabe und geteilte Verantwortung sowie die Fähigkeit, den Unterschied als Reichtum und Verheißung zu erkennen, nicht als Motiv von Unterwerfung und Dominanz. Die Anerkennung der Würde von Mann und Frau umfasst eine entsprechende Würdigung ihrer gegenseitigen Beziehung. Wie können wir die uns auszeichnende konkrete Menschennatur wirklich in der Tiefe erkennen, ohne sie durch diese Verschiedenheit kennenzulernen? Und das geschieht, wenn Mann und Frau miteinander sprechen, Fragen stellen, wenn sie einander zugeneigt sind und gemeinsam handeln in gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Wohlwollen.
Der Beitrag der modernen Kultur zur Wiederentdeckung der Würde des Geschlechtsunterschieds ist unleugbar. Daher ist es sehr befremdlich festzustellen, dass diese Kultur jetzt wie blockiert zu sein scheint von der Tendenz, den Unterschied auszulöschen, anstatt die Probleme zu lösen, die diesen Unterschied seiner Würde berauben. Die Familie ist der unersetzliche Schoß der Initiation zum geschöpflichen Bund von Mann und Frau. Dieses Band ist – unterstützt von der Gnade Gottes, des Schöpfers und Erlösers – dazu bestimmt, sich in den vielen Weisen ihrer Beziehung zu verwirklichen, die sich in den verschiedenen gemeinschaftlichen und sozialen Bindungen widerspiegeln. Die tiefe Wechselbeziehung zwischen den Familienmitgliedern und den gesellschaftlichen Formen dieses Bundes – in Religion und Ethik, in der Arbeit, in Wirtschaft und Politik, in der Sorge für das Leben und in der Beziehung zwischen den Generationen – ist mittlerweile globale Evidenz. In der Tat, wenn die Dinge zwischen Mann und Frau gut laufen, dann geht es auch Welt und Geschichte gut. Wenn das Gegenteil der Fall ist, wird die Welt ungastlich und die Geschichte stagniert.
3. Das Zeugnis der Menschlichkeit und der Schönheit der christlichen Erfahrung von Familie sollte uns daher noch tiefgehender inspirieren. Die Kirche verströmt die Liebe Gottes zur Familie im Hinblick auf ihre Sendung der Liebe für alle Familien der Welt. Die Kirche – die sich als Volk und Familie versteht – sieht in der Familie das Bild des Bundes Gottes mit der ganzen Menschheitsfamilie. Und der Apostel sagt, dass dies ein großes Geheimnis in Bezug auf Christus und die Kirche ist (vgl. Eph 5,32). Die Liebe der Kirche verpflichtet uns daher, auf der Ebene der Lehre und der Pastoral unsere Fähigkeit weiterzuentwickeln, die Wahrheit und Schönheit von Gottes Schöpfungsplan für unsere Zeit zu sehen und zu deuten. Die Ausstrahlung dieses göttlichen Planes erfordert in der Komplexität der heutigen Situation eine besondere Intelligenz der Liebe und auch eine dem Evangelium entsprechende tiefe Hingabe, die beseelt ist von tiefem Mitgefühl und großer Barmherzigkeit gegenüber der Verwundbarkeit und Fehlbarkeit der Liebe zwischen Menschen.
Es ist notwendig, sich mit mehr Begeisterung der erlösenden Befreiung – ich würde fast sagen der Rehabilitation – dieser außerordentlichen »Erfindung « der göttlichen Schöpfung zu widmen. Diese Befreiung muss ernst genommen werden, in Bezug auf die Lehre und auch in praktischer und pastoraler Hinsicht sowie als Zeugnis. Die Dynamik der Beziehung zwischen Gott, Mann und Frau und ihren Kindern sind der goldene Schlüssel, um die Welt und die Geschichte mit all dem, was sie enthalten, zu verstehen. Und schließlich auch um etwas sehr Tiefes von dem zu verstehen, was in der Liebe Gottes selbst enthalten ist. Sind wir in der Lage, in dieser Größenordnung zu denken? Sind wir überzeugt von der Lebenskraft, die dieser Plan Gottes in die Liebe der Welt bringt? Wissen wir die jungen Generationen der Resignation zu entreißen und sie für die Kühnheit dieses Plans wiederzugewinnen? Sicher sind wir uns der Tatsache bewusst, dass wir auch diesen Schatz »in zerbrechlichen Gefäßen« (vgl. 2 Kor 4,7) tragen. Die Gnade existiert ebenso wie die Sünde. Lernen wir deshalb, uns nicht mit dem menschlichen Scheitern abzufinden, sondern unterstützen wir die Freisetzung des Schöpferplans bedingungslos. Zu Recht müssen wir erkennen, dass wir »andere Male ein allzu abstraktes theologisches Ideal der Ehe vorgestellt [haben], das fast künstlich konstruiert und weit von der konkreten Situation und den tatsächlichen Möglichkeiten der realen Familien entfernt ist. Diese übertriebene Idealisierung, vor allem, wenn wir nicht das Vertrauen auf die Gnade wachgerufen haben, hat die Ehe nicht erstrebenswerter und attraktiver gemacht, sondern das völlige Gegenteil bewirkt« (Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia, 36). Die Gerechtigkeit Gottes erstrahlt in der Treue zu seiner Verheißung. Und dieser Glanz ist seine Barmherzigkeit, wie wir aus der Offenbarung Jesu gelernt haben (vgl. Röm 9,21-23).
4. Die beiden Synodenversammlungen des Weltepiskopats »cum Petro« und »sub Petro« haben übereinstimmend die Notwendigkeit bezeugt, das Verständnis und die Sorge der Kirche für dieses Geheimnis der menschlichen Liebe zu erweitern, in dem sich die Liebe Gottes zu allen Menschen Bahn bricht. Das Apostolische Schreiben Amoris laetitia beherzigt diese Ausweitung und fordert das ganze Volk
Gottes auf, die familiäre Dimension der Kirche sichtbarer und wirksamer werden zu lassen. Die Familien, aus denen sich das Volk Gottes zusammensetzt und die mit ihrer Liebe den Leib des Herrn aufbauen, sind aufgerufen, sich des Gnadengeschenks, das sie selbst in sich tragen, bewusster zu werden und stolz zu sein, es in den Dienst aller Armen und Verlassenen stellen zu dürfen, die daran zweifeln, es je finden oder wiederfinden zu können. Das pastorale Thema der heutigen Zeit ist nicht nur das bei vielen vorhandene »Entferntsein« vom Ideal und von der Praxis der christlichen Wahrheit über Ehe und Familie. Noch entscheidender ist das Thema der »Nähe« der Kirche: Nähe zu den jungen Generationen der Eheleute, damit die Segnung ihrer Verbindung sie immer mehr überzeugt und begleitet, und Nähe zu den Situationen menschlicher Schwäche, damit die Gnade sie erlösen, wiederbeleben und heilen kann. Das unauflösliche Band der Kirche zu ihren Kindern ist das offensichtlichste Zeichen der treuen und barmherzigen Liebe Gottes.
5. Der neue Horizont dieses Einsatzes sieht sicherlich in ganz besonderer Weise euer Institut in der Pflicht, das aufgerufen ist, die notwendige Öffnung des Glaubensverständnisses im Dienst der pastoralen Sorge des Nachfolgers Petri zu unterstützen. Die Fruchtbarkeit dieser Aufgabe der Vertiefung und des Studiums zugunsten der ganzen Kirche ist dem Eifer eures Geistes und Herzens anvertraut. Wir wollen nicht vergessen: »Auch die guten Theologen riechen wie die guten Hirten nach Volk und nach Straße und gießen mit ihren Überlegungen Öl und Wein auf die Wunden der Menschen« (Schreiben, 3. März 2015).
Theologie und Pastoral gehören zusammen. Eine theologische Lehre, die sich nicht am Ziel der Evangelisierung und der pastoralen Sorge der Kirche orientiert und sich von dorther gestalten lässt, ist genauso undenkbar wie eine kirchliche Pastoral, die die Offenbarung und ihre Tradition nicht zu würdigen weiß im Hinblick auf ein besseres Verständnis und eine bessere Weitergabe des Glaubens. Diese Aufgabe erfordert, in der Freude des Glaubens und in der Demut eines freudigen Dienstes an der Kirche verwurzelt zu sein – an der Kirche, so wie sie ist, nicht an einer nach dem eigenen Bild und Gleichnis erdachten Kirche. Die lebendige Kirche, in der wir leben, die schöne Kirche, zu der wir gehören, die Kirche des einen Herrn und des einen Heiligen Geistes, der wir uns als »unnütze Sklaven« (Lk 17,10) zur Verfügung stellen, die ihre besten Gaben einbringen.
Die Kirche, die wir lieben, damit alle sie lieben können. Die Kirche, in der wir uns jenseits aller Verdienste geliebt fühlen und für die wir bereit sind, in vollkommener Freude Opfer zu bringen. Gott begleite uns auf diesem Weg der Gemeinschaft, den wir gemeinsam gehen werden. Und er segne schon jetzt die Großherzigkeit, mit der ihr euch anschickt, die Samen in die euch anvertraute Furche zu legen. Danke!
Copyright © Dicastero per la Comunicazione - Libreria Editrice Vaticana