ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DES
PÄPSTLICHEN RATS ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN
Sala Clementina
Donnerstag, 10. November 2016
Meine Herren Kardinäle,
liebe Mitbrüder im bischöflichen und priesterlichen Dienst,
liebe Brüder und Schwestern!
Ich freue mich, aus Anlass eurer Vollversammlung, die dem Thema »Einheit der Christen: Welches Modell der vollen Gemeinschaft?« gewidmet ist, mit euch zusammenzutreffen. Ich danke Kardinal Koch für die Worte, die er im Namen von euch allen an mich gerichtet hat. Im Verlauf dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit, viele bedeutsame ökumenische Begegnungen zu erleben, sowohl hier in Rom als auch während der Reisen. Jede dieser Begegnungen war für mich eine Quelle des Trostes, weil ich feststellen konnte, dass der Wunsch nach Einheit lebendig und stark ist. Als Bischof von Rom und Nachfolger Petri, im Bewusstsein der mir vom Herrn anvertrauten Verantwortung, möchte ich erneut unterstreichen, dass die Einheit der Christen eine meiner Hauptsorgen ist und ich wünsche, dass sie immer mehr von jedem Getauften geteilt werden möge.
Die Einheit der Christen ist ein wesentliches Erfordernis unseres Glaubens, ein Erfordernis, das dem Innersten unseres Seins als an Jesus Christus Glaubende entspringt. Wir erflehen die Einheit, weil wir Christus anflehen. Wir wollen die Einheit leben, weil wir Christus folgen, seine Liebe leben und wirklich das Geheimnis seines Einsseins mit dem Vater verkosten wollen, die das Wesen der göttlichen Liebe ist. Jesus selbst nimmt uns im Heiligen Geist in sein Gebet hinein: »Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein […] Ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich. […] damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin« (Joh 17,21.23.26). Dem hohepriesterlichen Gebet Jesu folgend ist das, was wir ersehnen, die Einheit in der Liebe des Vaters, die uns in Jesus Christus geschenkt wird, Liebe, die auch das Denken und die Lehren formt. Es reicht nicht, im Verständnis des Evangeliums übereinzustimmen, sondern es ist notwendig, dass wir alle als Gläubige mit Christus und in Christus vereint sind. Das ist unsere persönliche und gemeinschaftliche Bekehrung, unsere wachsende Gleichgestaltung mit ihm (vgl. Röm 8,29), unser immer mehr In-ihm-Leben (vgl. Gal 2,20), die uns erlauben, in der Gemeinschaft unter uns zu wachsen. Das ist die Seele, die auch die Studientagungen und jede andere Art von Anstrengungen prägt, um zu einander angenäherten Standpunkten zu gelangen. Wenn wir das im Gedächtnis behalten, dann ist es möglich, einige falsche Modelle der Gemeinschaft zu entlarven, die in Wirklichkeit nicht zur Einheit führen, sondern ihr in ihrem Wesen widersprechen.
Vor allem ist die Einheit nicht die Frucht unserer menschlichen Anstrengungen oder das von kirchlicher Diplomatie geschaffene Produkt, sondern sie ist ein Geschenk von oben. Wir Menschen sind weder in der Lage, die Einheit allein zu schaffen, noch können wir deren Formen und Zeiten bestimmen. Was also ist unsere Rolle? Was müssen wir tun, um die Einheit der Christen zu fördern? Unsere Aufgabe ist es, dieses Geschenk anzunehmen und für alle sichtbar zu machen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Einheit zuerst Weg und dann Ziel, ein Weg mit seinen Zeitplänen und Rhythmen, mit seinem langsameren und schnelleren Vorankommen, und auch mit seinem Anhalten. Die Einheit als Weg erfordert geduldiges Warten, Beharrlichkeit, Mühe und Einsatz. Dieser hebt die Konflikte nicht auf und löscht die Kontraste nicht aus, er kann sogar zuweilen die Gefahr neuen Unverständnisses bergen. Die Einheit kann nur von dem angenommen werden, der beschließt, sich auf den Weg zu einem Ziel zu machen, das heute ziemlich weit entfernt scheinen könnte. Dennoch wird derjenige, der diesen Weg geht, getröstet von der fortwährenden Erfahrung einer freudig erahnten, wenn auch noch nicht voll erreichten Gemeinschaft jedes Mal, wenn er die Überheblichkeit
beiseite lässt und sich alle als der Liebe Gottes bedürftig erkennen. Und was verbindet uns Christen alle tiefer als die Erfahrung, Sünder zu sein,aber zugleich Gegenstand der grenzenlosen Barmherzigkeit Gottes, die uns von Jesus Christus offenbart worden ist? Ebenso ist die Einheit der Liebe bereits Wirklichkeit, wenn diejenigen, die Gott erwählt und berufen hat, sein Volk zu sein, gemeinsam die großen Taten verkünden, die er für sie vollbracht hat, vor allem indem sie es durch ein von der Liebe zu allen erfülltes Leben bezeugen (1 Petr 2,4-10). Daher sage ich gerne, dass die Einheit auf dem Weg gemacht wird, um daran zu erinnern, dass wir bereits vereint sind, wenn wir einen gemeinsamen Weg gehen, das heißt wenn wir einander als Brüder begegnen, gemeinsam beten, in der Verkündigung des Evangeliums und im Dienst an den Letzten zusammenarbeiten. Alle theologischen und ekklesiologischen Streitfragen, die die Christen noch trennen, werden nur auf diesem Weg gelöst werden, ohne dass wir heute wissen wie und wann, aber dies wird geschehen dem folgend, was der Heilige Geist zum Wohl der Kirche eingeben wird.
Zweitens ist die Einheit keine Gleichförmigkeit. Die verschiedenen theologischen, liturgischen, geistlichen und kirchenrechtlichen Traditionen, die sich in der christlichen Welt entwickelt haben, sind ein Reichtum und keine Bedrohung für die Einheit der Kirche, wenn sie unverfälscht in der Apostolischen Tradition verwurzelt sind. Diese Verschiedenheit beseitigen zu wollen bedeutet, gegen den Heiligen Geist zu handeln, der wirkt, indem er die Gemeinschaft der Gläubigen mit unterschiedlichen Gaben bereichert. Im Lauf der Geschichte hat es verschiedene Versuche dieser Art gegeben mit Konsequenzen, unter denen wir manchmal heute noch leiden. Wenn wir uns dagegen vom Heiligen Geist leiten lassen, werden Fülle, Vielfalt, Unterschiedlichkeit nie zur Streitfrage, weil er uns drängt, die Verschiedenheit in der Gemeinschaft der Kirche zu leben. Ökumenische Aufgabe ist es, die legitime Verschiedenheit zu respektieren und zur Überwindung der Differenzen hinzuführen, die mit der von Gott gewollten Einheit nicht zu vereinbaren sind. Das Fortbestehen dieser Differenzen darf uns nicht lähmen, sondern muss uns antreiben, gemeinsam einen Weg zu suchen, um diese Hindernisse zu bewältigen. Schließlich ist die Einheit auch keine Einverleibung.
Die Einheit der Christen schließt keine Ökumene »im Rückwärtsgang« ein, weshalb jemand die eigene Glaubensgeschichte verleugnen müsste. Und sie duldet auch keinen Proselytismus, der vielmehr ein Gift ist für den ökumenischen Weg. Bevor wir sehen, was uns trennt, muss man auch in existentieller Weise den Reichtum dessen wahrnehmen, was uns gemeinsam ist, wie die Heilige Schrift und die großen Glaubensbekenntnisse der ersten ökumenischen Konzile. Wenn wir dies tun, können wir Christen uns als Brüder und Schwestern erkennen, die an den einen Herrn und Erlöser Jesus Christus glauben und die sich gemeinsam dafür einsetzen, den Weg zu finden, heute dem Wort Gottes gehorsam zu sein, der will, dass wir vereint sind. Die Ökumene ist wahr, wenn man fähig ist, die Aufmerksamkeit von sich selbst, den eigenen Argumenten und Formulierungen weg auf das Wort Gottes zu lenken, das in der Welt gehört, angenommen und bezeugt werden will. Daher sind die verschiedenen christlichen Gemeinschaften aufgerufen, zusammenzuarbeiten und sich keine »Konkurrenz zu machen«.
Mein kürzlicher Besuch in Lund hat mich daran erinnert, wie aktuell das ökumenische Prinzip ist, das der Ökumenische Rat der Kirchen bereits 1952 formuliert hat und das empfiehlt: »Die Christen sollten alles gemeinsam tun, außer wenn eigene tiefe Überzeugungen sie zwingen, getrennt zu handeln.« Ich danke euch für euren Einsatz, ich versichere euch meines Gebetsgedenkens und vertraue auf euer Gebet für mich. Der Herr segne euch und die Muttergottes behüte euch.
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