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INTERRELIGIÖSE BEGEGNUNG

ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS

Sala Clementina
Donnerstag, 3. November 2016

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Liebe Freunde, ich heiße Sie herzlich willkommen. Ich freue mich über diese Begegnung und danke Ihnen, dass Sie die Einladung angenommen haben, gemeinsam über das Thema der Barmherzigkeit nachzudenken.

Wie Sie wissen, geht das Heilige Jahr seinem Ende zu. In ihm hat die katholische Kirche unter dem Blickwinkel der Barmherzigkeit intensiv auf das Herz der christlichen Botschaft geblickt, denn für uns offenbart die Barmherzigkeit den Namen Gottes, sie ist »der Tragebalken, der das Leben der Kirche stützt« (Misericordiae vultus, 10), und sie ist der Schlüssel, um Zutritt zu haben zum Geheimnis des Menschen, der auch heute Vergebung und Frieden dringend braucht.

Doch darf man das Geheimnis der Barmherzigkeit nicht nur in Worten feiern, sondern dies muss vor allem mit Taten geschehen, mit einem wirklich barmherzigen Lebensstil, der aus uneigennütziger Liebe, brüderlichem Dienen, aufrichtigem Teilen besteht. Das ist der Stil, den die Kirche immer mehr annehmen will, auch »gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen zu fördern« (II. Vat. Konzil, Erklärung Nostra aetate, 1). Das ist der Stil, zu dem auch die Religionen aufgerufen sind, um ganz besonders in dieser unserer Zeit Boten des Friedens und Stifter von Gemeinschaft zu sein; um zu verkünden,  dass heute die Zeit der Brüderlichkeit ist, im  Gegensatz zu dem, der Auseinandersetzungen, Spaltungen und Abkapselung fördert. Daher ist es wichtig, die Begegnung zwischen uns zu suchen, eine Begegnung, die uns ohne bequemen Synkretismus »offener [macht] für den Dialog, damit wir uns besser kennen und verstehen lernen «, damit sie »jede Form der Verschlossenheit und Verachtung überwinde und alle Form von Gewalt und Diskriminierung vertreibe« (Misericordiae vultus, 23). Das ist Gott wohlgefällig und eine dringliche Aufgabe, nicht nur als Antwortauf die heutigen Nöte, sondern vor allem als Antwort auf den Appell zur Liebe, der Seele jedes authentischen Ausdrucks von Religion.

Das Thema der Barmherzigkeit ist vielen religiösen und kulturellen Traditionen vertraut, in denen Mitleid und Gewaltlosigkeit wesentlich sind und den Weg des Lebens weisen: »Starr und hart ist, was dem Tod anheimfällt, weich und zart ist, was vom Leben erfüllt ist« (Tao Te King, 76). Sich mit mitleidsvoller Zärtlichkeit zur schwachen und bedürftigen Menschheit hinabzubeugen gehört zu einem wahrhaft religiösen Geist, der die Versuchung zurückweist, sich mit Gewalt durchzusetzen, und der sich weigert, das menschliche Leben zu einer Ware zu machen; der in den anderen Brüdern und Schwestern sieht und niemals nur Nummern. Denjenigen nahe zu sein, die in Situationen größerer Hilfsbedürftigkeit – wie Krankheit, Behinderung, Armut, Ungerechtigkeit, Folgen von Krieg und Migration – leben, ist ein Ruf, der aus dem Herzen jeder wirklich religiösen Tradition aufsteigt. Er ist das Echo der göttlichen Stimme, die zum Gewissen jedes einzelnen spricht und dazu auffordert, die Selbstbezogenheit zu überwinden und sich zu öffnen: sich öffnen dem Anderen über uns, der an die Tür unseres Herzens klopft; sich öffnen dem anderen neben uns, der an unsere Haustür pocht und um Aufmerksamkeit und Hilfe bittet.

Ein offenes und mitleidsvolles Herz zu haben, verweist uns auf die Bedeutung des Begriffs »Barmherzigkeit«. Seine Etymologie in der lateinischen Sprache spielt an auf ein Herz, das feinfühlig ist für Bedürftigkeiten und vor allem für den Bedürftigen, ein Herz, das die Gleichgültigkeit besiegt, weil es sich vom Leid des anderen anrühren lässt. In den semitischen Sprachen, zum Beispiel dem Arabischen und dem Hebräischen, verweist die Wurzel »r(a)h(a)m«, die auch die göttliche Barmherzigkeit zum Ausdruck bringt, auf den Mutterschoß, das innerste Gefühl [die »Eingeweide«] des Menschen, auf die Gefühle der Mutter für das Kind, das sie gebären wird. In diesem Zusammenhang übermittelt der Prophet Jesaja eine wundervolle Botschaft, die zugleich Verheißung einer Liebe und eine Art Herausforderung vonseiten Gottes gegenüber dem Menschen ist: »Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht« (Jes 49,15). Der Mensch – es ist traurig, das festzustellen – vergisst viel zu oft, »s-corda«, das heißt, er entfernt vom Herzen, wie es das [italienische] Wort sagt. Er hält Gott, den Nächsten und auch die Erinnerung an die Vergangenheit auf Distanz, und so wiederholt er sogar auf furchtbarere Weise die tragischen Irrtümer, die bereits zu anderer Zeit begangen worden sind.

Das ist das Drama des Bösen, der dunklen Abgründe, in die unsere Freiheit eintauchen kann, versucht vom Bösen, das immer in der Stille auf der Lauer liegt, um uns zu treffen und untergehen zu lassen. Aber gerade hier, angesichts des großen Rätsels des Bösen, das jede religiöse Erfahrung herausfordert, liegt der überraschendste Aspekt der barmherzigen Liebe. Sie lässt den Menschen nicht dem Bösen oder sich selbst ausgeliefert sein. Sie vergisst [»scorda«] nicht, sondern erinnert [»ricorda«] sich und beugt sich zu jedem Elend hinab, um wieder aufzurichten. Genau so wie es eine Mutter tut, die auch angesichts der bösesten Taten ihres Kindes jenseits der Sünde immer das Antlitz erkennt, das sie im Schoß getragen hat. In einer hektischen Welt mit wenig Erinnerung, die nach vorne stürmt, dabei viele zurücklässt und nicht bemerkt, dass ihr die Luft ausgeht und sie kein Ziel mehr hat, brauchen wir heute so dringend wie Sauerstoff diese das Leben erneuernde, unentgeltliche Liebe. Der Mensch dürstet nach Barmherzigkeit, und es gibt keine Technologie, die seinen Durst löschen kann: Er sucht eine Zuneigung, die über momentane Tröstungen hinausgeht, einen sicheren Hafen, wo sein unruhiges Umherfahren eine Anlegestelle findet, eine unendliche Umarmung, die vergibt und versöhnt. Das ist sehr wichtig angesichts der heute weit verbreiteten Furcht, dass Vergebung unmöglich sei, dass es unmöglich sei, wiederhergestellt und von der eigenen Schwachheit erlöst zu werden.

Für uns Katholiken gehört es zu den bedeutungsvollsten Riten des Jubiläumsjahres, demütig und vertrauensvoll durch eine Tür – die Heilige Pforte – zu gehen, um von der göttlichen Barmherzigkeit, die uns unsere Schuld vergibt, vollkommen versöhnt zu werden. Allerdings erfordert dies, dass auch wir unseren Schuldigern vergeben (vgl. Mt 6,12), den Brüdern und Schwestern, die uns verletzt haben: Man empfängt die Vergebung von Gott, um sie mit anderen zu teilen. Die Vergebung ist sicherlich das größte Geschenk, das wir den anderen machen können, weil es uns am meisten kostet, aber zugleich ist es auch das Geschenk, das uns Gott ähnlicher macht.

Die Barmherzigkeit schließt auch die Welt ein, die uns umgibt, unser gemeinsames Haus, das wir aufgerufen sind zu hüten und vor einem zügellosen und alles verzehrenden Konsum zu bewahren. Unser Einsatz ist notwendig, um zur Mäßigkeit und zur Achtung zu erziehen, zu einer einfacheren und geordneten Lebensweise, in der man die Ressourcen der Schöpfung mit Weisheit und Maß gebraucht und dabei an die gesamte Menschheit und die zukünftigen Generationen denkt, nicht nur an die Interessen der eigenen Gruppe und die Vorteile für die eigene Zeit. Gerade in der heutigen Zeit »verlangt die Schwere der ökologischen Krise von uns allen, an das Gemeinwohl zu denken und auf einem Weg des Dialogs voranzugehen, der Geduld, Askese und Großherzigkeit erfordert« (Enzyklika Laudato sì, 201).

Dieser Weg soll unser Königsweg sein, die ziellosen Wege der Konfrontation und der Abkapselung müssen wir ablehnen. Es darf nicht mehr geschehen, dass die Religionen aufgrund des Verhaltens einiger ihrer Mitglieder eine misstönende Botschaft vermitteln, die nicht im Einklang steht mit der Botschaft der Barmherzigkeit. Leider vergeht kein Tag, an dem man nicht von Gewalt, Konflikten, Entführungen, Terroranschlägen, Opfern und Zerstörung hört. Und es ist schrecklich, dass zur Rechtfertigung dieser Barbarei zuweilen der Name einer Religion oder Gottes selbst angerufen wird. Diese verwerflichen Haltungen, die den Namen Gottes schänden und die religiöse Suche des Menschen beflecken, müssen entschieden verurteilt werden.

Überall soll dagegen die friedliche Begegnung unter den Gläubigen und eine wirkliche Religionsfreiheit gefördert werden. Unsere diesbezügliche Verantwortung Gott, der Menschheit und der Zukunft gegenüber ist sehr groß und erfordert den ganzen Einsatz, ohne jede opportunistische Falschheit. Das ist ein Ruf, der an uns ergeht; ein Weg, den wir zum Wohl aller voller Hoffnung gehen müssen. Die Religionen sollen Schoß des Lebens sein, die der verletzten und bedürftigen Menschheit die barmherzige Zärtlichkeit Gottes bringen; sie mögen Pforten der Hoffnung sein, die helfen, die aus Stolz und Angst errichteten Mauernzu durchschreiten. Danke!

 



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