VIDEOBOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE VOLKSBEWEGUNGEN
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Schwestern, Brüder, liebe soziale Poeten!
1. Liebe soziale Poeten
So nenne ich euch gerne, »soziale Poeten«. Weil ihr soziale Dichter seid, weil ihr die Fähigkeit und den Mut habt, Hoffnung zu schaffen, wo nur Verschwendung und Ausgrenzung zu sein scheinen. Poesie bedeutet Schaffenskraft, und ihr schafft Hoffnung. Ihr wisst, wie ihr mit euren Händen die Würde jedes Einzelnen, der Familien und der Gesellschaft als Ganzes, zusammen mit der Erde, dem Haus und der Arbeit, mit Fürsorge und Gemeinschaft zu schmieden habt. Ich danke euch, denn euer Engagement ist ein maßgebliches Wort, das den stummen und oft »höflichen« Verzögerungen, denen ihr oder so viele unserer Brüder und Schwestern ausgesetzt sind, widersprechen kann. Aber wenn ich an euch denke, glaube ich, dass euer Engagement vor allem eine Verkündigung der Hoffnung ist. Euch zu sehen, erinnert mich daran, dass wir nicht dazu verdammt sind, Dinge zu wiederholen oder eine Zukunft aufzubauen, die auf Ausgrenzung und Ungleichheit, auf Aussonderung oder Gleichgültigkeit beruht, wo die Kultur der Privilegien eine unsichtbare und unbezwingbare Macht ist und Ausbeutung und Missbrauch eine gewohnheitsmäßige Methode des Überlebens sind. Nein! Ihr wisst sehr gut, wie man das verkündigt. Danke.
Vielen Dank für das Video, das wir gerade gemeinsam gesehen haben. Ich habe die Überlegungen des Treffens gelesen, das Zeugnis von dem, was ihr in diesen Zeiten der Bedrängnis und der Angst erlebt habt, die Zusammenfassung eurer Vorschläge und eurer Ziele. Ich danke euch. Ich danke euch, dass ihr mich an dem historischen Prozess, den ihr durchlauft, teilhaben lasst, und ich danke euch, dass ihr mit mir diesen brüderlichen Dialog teilt, der das Große im Kleinen und das Kleine im Großen zu sehen sucht, einen Dialog, der in den Peripherien entsteht, einen Dialog, der Rom erreicht und zu dem wir uns alle eingeladen und herausgefordert fühlen können. »Um einander zu begegnen und sich gegenseitig zu helfen, müssen wir miteinander sprechen« (Enz. Fratelli tutti, 198), und wie viel!
Ihr habt verspürt, dass die aktuelle Situation ein neues Treffen verdient. Mir ging es genauso. Obwohl wir nie den Kontakt verloren haben - es sind, glaube ich, schon sechs Jahre seit der letzten Hauptversammlung vergangen. In dieser Zeit ist viel passiert, viel hat sich verändert. Es handelt sich um Veränderungen, die Punkte markieren, an denen es kein Zurück mehr gibt, Wendepunkte, Kreuzungen, an denen die Menschheit aufgerufen ist, sich zu entscheiden. Es sind neue Momente der Begegnung, der Unterscheidung und des gemeinsamen Handelns erforderlich. Jeder Mensch, jede Organisation, jedes Land und die ganze Welt müssen diese Momente suchen, um nachzudenken, zu unterscheiden und zu wählen. Denn eine Rückkehr zu den bisherigen Mustern wäre selbstmörderisch und, wenn ihr mir gestatten, die Worte ein wenig zu forcieren, öko-mörderisch und völkermörderisch. Ich forciere!
In den letzten Monaten ist vieles von dem, was ihr angeprangert habt, überdeutlich geworden. Die Pandemie hat die sozialen Ungleichheiten aufgezeigt, von denen unsere Völker betroffen sind, und hat - ohne um Erlaubnis oder Entschuldigung zu bitten - die erschütternde Situation vieler Brüder und Schwestern offengelegt, die so viele postfaktische Mechanismen nicht zu verbergen vermochten.
Viele Dinge, die wir für selbstverständlich hielten, sind wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Wir haben erlebt, wie sich unser Leben von einem Tag auf den anderen dramatisch verändern kann, so dass wir z. B. unsere Familienangehörigen, Bekannten und Freunde nicht mehr treffen können. In vielen Ländern haben die Staaten darauf reagiert. Sie haben auf die Wissenschaft gehört und es geschafft, Grenzen zu setzen, um das Gemeinwohl zu gewährleisten, und haben zumindest für eine Weile diese »gewaltige Maschinerie« gebremst, die fast automatisch funktioniert und in dem die Völker und Menschen nur noch Rädchen sind (vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 22).
Wir alle haben unter dem Schmerz der Schließungen gelitten, aber ihr habt, wie immer, am meisten gelitten. In Vierteln ohne grundlegende Infrastruktur (wo viele von euch und Millionen und Abermillionen von Menschen leben) ist es schwierig, zu Hause zu bleiben; nicht nur, weil man nicht alles hat, was man braucht, um ein Minimum an Pflege und Schutz zu gewährleisten, sondern einfach, weil das Zuhause das Viertel ist. Migranten, Personen ohne Papiere und informell Beschäftigte ohne festes Einkommen haben in vielen Fällen keinerlei staatliche Unterstützung erhalten und wurden an der Ausübung ihrer normalen Tätigkeiten gehindert, was ihre ohnehin schon große Armut noch verschlimmert. Diese Kultur der Gleichgültigkeit drückt sich unter anderem darin aus, dass diese leidende »Drittel« unserer Welt für die Mainstream-Medien und Meinungsmacher offenbar nicht von ausreichendem Interesse ist. Es erscheint nicht. Es bleibt verborgen, wie in sich »zusammengesunken«.
Ich möchte auch auf eine stille Pandemie hinweisen, von der Kinder, Jugendliche und junge Menschen aller sozialen Schichten seit Jahren betroffen sind, und ich glaube, dass sie in dieser Zeit der Isolation noch größer geworden ist. Wir sprechen von chronischem Stress und Angst, die mit verschiedenen Faktoren wie Hyperkonnektivität, Orientierungslosigkeit und mangelnden Zukunftsperspektiven zusammenhängen, die sich ohne echte Kontakte zu anderen - Familien, Schulen, Sportzentren, Jugendtreffs, Kirchengemeinden - noch verschlimmern; kurz gesagt, sie werden durch das Fehlen echter Kontakte zu Freunden noch verschlimmert, denn die Freundschaft ist die Form, in der die Liebe immer wieder neu erwacht.
Es ist klar, dass die Technologie ein Werkzeug für das Gute sein kann, und sie ist ein Werkzeug für das Gute, das Dialoge wie diesen und viele andere Dinge ermöglicht, aber sie kann niemals den Kontakt zwischen uns ersetzen, sie kann niemals eine Gemeinschaft ersetzen, in der wir Wurzeln schlagen können und in der wir unser Leben fruchtbar machen können.
Und wenn wir schon von Pandemien sprechen, müssen wir uns auch die Frage nach der Geißel der Ernährungskrise stellen. Trotz der Fortschritte in der Biotechnologie hatten Millionen von Menschen keinen Zugang zu Nahrungsmitteln, obwohl diese vorhanden sind. Zwanzig Millionen weitere Menschen sind in diesem Jahr in eine extreme Ernährungsunsicherheit geraten, die auf [viele] Millionen ansteigt. Tiefe Armut hat sich vervielfacht. Die Preise für Lebensmittel sind stark gestiegen. Die Zahlen des Hungers sind horrend, ich denke zum Beispiel an Länder wie Syrien, Haiti, Kongo, Senegal, Jemen, Südsudan; aber auch in vielen anderen Ländern der armen Welt und nicht selten auch in der reichen Welt herrscht Hunger. Möglicherweise übersteigt die Zahl der jährlichen Todesfälle durch Hunger die Zahl der Todesfälle durch Covid.1 Aber das macht keine Schlagzeilen, das erzeugt keine Empathie.
Ich möchte euch danken, weil ihr den Schmerz der anderen wie euren eigenen empfunden haben. Ihr versteht es, das Gesicht der wahren Menschlichkeit zu zeigen, der Menschlichkeit, die nicht dadurch entsteht, dass man dem Leiden der Menschen um einen herum den Rücken kehrt, sondern in der geduldigen, engagierten und oft auch schmerzhaften Erkenntnis, dass der andere mein Bruder, meine Schwester ist (vgl. Lk 10,25-37) und dass seine und ihre Sorgen, Freuden und Leiden auch die meinen sind (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, 1). Die Gestürzten zu ignorieren bedeutet, unsere eigene Menschlichkeit zu ignorieren, die in jedem unserer Brüder aufschreit.
Christen und Nichtchristen, ihr habt auf Jesus geantwortet, der zu seinen Jüngern vor den hungernden Menschen sagte: »Gebt ihr ihnen zu essen« (Mt 14,16). Und wo Mangel herrschte, hat sich das Wunder der Vermehrung in euch wiederholt, die ihr unermüdlich dafür gekämpft habt, dass es niemandem an Brot fehlt (vgl. Mt 14,13-21). Danke!
Wie die Ärzte, Krankenschwestern und das Gesundheitspersonal an der sanitären Front habt auch ihr euch in die Kampfzonen der marginalisierten Viertel begeben. Ich denke an viele - unter Anführungszeichen - »Märtyrer« dieser Solidarität, von denen ich durch euch erfahren habe. Der Herr wird ihnen das anrechnen.
Wenn alle, die aus Liebe gemeinsam gegen die Pandemie gekämpft haben, auch gemeinsam von einer neuen Welt träumen könnten, wie anders wäre alles! Gemeinsam träumen.
2. Selig
Ihr seid, wie ich euch in meinem Brief vom letzten Jahr sagte2, eine wahre unsichtbare Armee; ihr seid ein wesentlicher Teil jener Menschheit, die angesichts eines Systems des Todes für das Leben kämpft. In dieser Hingabe sehe ich den Herrn, der sich in unserer Mitte zeigt, um uns sein Reich zu schenken. Als Jesus uns das »Protokoll« vorstellte, nach dem wir gerichtet werden - vgl. Mt 25 -, sagte er uns, dass das Heil darin besteht, sich um die Hungrigen, die Kranken, die Gefangenen, die Fremden zu kümmern, kurz gesagt, ihn in der ganzen leidenden Menschheit zu erkennen und ihm zu dienen. Deshalb möchte ich euch sagen: »Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden« (Mt 5,6); »Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder genannt werden« (Mt 5,9).
Wir wollen, dass diese Seligkeit jeden Winkel und jeden Raum, in dem das Leben bedroht ist, erfasst, durchdringt und salbt. Aber es kommt vor, dass wir als Volk, als Gemeinschaft, als Familie und sogar als Einzelne mit Situationen konfrontiert werden, die uns lähmen, wo der Horizont verschwindet und Verwirrung, Angst, Ohnmacht und Ungerechtigkeit die Gegenwart zu beherrschen scheinen. Wir erleben auch Widerstand gegen die Veränderungen, die wir brauchen und anstreben, Widerstand, der tief verwurzelt ist, jenseits unserer Kräfte und Entscheidungen. Es handelt sich um das, was die Soziallehre der Kirche als »Strukturen der Sünde« bezeichnet hat, zu deren Bekehrung auch wir aufgerufen sind und die wir nicht ignorieren können, wenn wir darüber nachdenken, wie wir handeln sollen. Persönliche Veränderungen sind notwendig, aber es ist auch wichtig, unsere sozioökonomischen Modelle so anzupassen, dass sie ein menschliches Gesicht haben, denn das haben viele Modelle verloren. Und wenn ich über diese Situationen nachdenke, werde ich beharrlich und frage nach. Und ich beginne zu bitten. Alle zu bitten. Und ich möchte alle im Namen Gottes bitten.
An die großen Laboratorien, dass sie die Patente freigeben. Dass sie in einer Geste der Menschlichkeit jedem Land, jedem Volk, jedem Menschen den Zugang zu dem Impfstoff ermöglichen. Es gibt Länder, in denen nur drei, vier Prozent der Einwohner geimpft sind.
Ich möchte im Namen Gottes die Finanzkonzerne und die internationalen Kreditinstitute bitten, den armen Ländern zu gestatten, die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung zu gewährleisten und ihnen die Schulden zu erlassen, die so oft gegen die Interessen der eigenen Völker aufgenommen haben.
Ich möchte im Namen Gottes die großen Bergbau-, Öl-, Forst-, Immobilien- und Lebensmittelkonzerne bitten, die Zerstörung von Wäldern, Feuchtgebieten und Bergen, die Verschmutzung von Flüssen und Meeren sowie die Vergiftung von Menschen und Lebensmitteln zu beenden.
Ich möchte im Namen Gottes die großen Lebensmittelkonzerne auffordern, keine monopolistischen Produktions- und Vertriebsstrukturen mehr aufzuzwingen, die die Preise in die Höhe treiben und dazu führen, dass den Hungernden das Brot vorenthalten wird.
Ich möchte im Namen Gottes die Waffenhersteller und -händler auffordern, ihre Aktivitäten vollständig einzustellen, die Gewalt und Krieg schüren, oft als Teil geopolitischer Spiele, deren Preis Millionen von Menschenleben und Vertreibungen sind.
Ich möchte im Namen Gottes die Giganten der Technologie bitten, damit aufzuhören, die menschliche Schwäche, die Verletzlichkeit der Menschen, für ihren Profit auszunutzen, ohne dabei in Rechnung zu stellen, wie Hassreden, Grooming [Kontaktaufnahme mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht], Fake News, Verschwörungstheorien und politische Manipulation zunehmen.
Ich möchte im Namen Gottes die Telekommunikationsriesen bitten, den Zugang zu Bildungsinhalten und den Austausch mit Lehrern über das Internet zu liberalisieren, damit arme Kinder in Quarantänesituationen eine Ausbildung erhalten können.
Ich möchte im Namen Gottes die Medien bitten, der Logik des Postfaktischen, der Desinformation, der Diffamierung, der Verleumdung und der kranken Vorliebe für Skandale und Zwielichtiges ein Ende zu setzen; dass sie sich bemühen, zur menschlichen Geschwisterlichkeit und zum Mitgefühl mit den am meisten verwundeten Menschen beizutragen.
Ich möchte im Namen Gottes die mächtigen Länder bitten, Aggressionen, Blockaden und einseitige Sanktionen gegen jedes Land der Erde einzustellen. Nein zum Neokolonialismus. Konflikte müssen in multilateralen Gremien wie den Vereinten Nationen gelöst werden. Wir haben bereits gesehen, wie einseitige Interventionen, Invasionen und Besetzungen enden, selbst wenn sie unter den edelsten Motiven oder Deckmänteln durchgeführt werden.
Dieses System mit seiner unerbittlichen Profitlogik entzieht sich jeder menschlichen Kontrolle. Es ist an der Zeit, die Lokomotive zu bremsen, die außer Kontrolle geraten ist und uns in den Abgrund treibt. Es ist noch Zeit.
An die Regierungen im Allgemeinen, an die Politiker aller Parteien, möchte ich gemeinsam mit den Armen der Erde die Bitte richten, ihre Völker zu vertreten und sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Ich möchte sie um den Mut bitten, auf ihr eigenes Volk zu schauen, den Menschen in die Augen zu sehen. Den Mut zu wissen, dass das Wohl eines Volkes viel mehr ist als ein Konsens zwischen Parteien (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 218). Sie sollten sich davor hüten, nur auf die Wirtschaftseliten zu hören, die so oft das Sprachrohr oberflächlicher Ideologien sind, die den wahren Problemen der Menschheit ausweichen. Sie sollen sich in den Dienst der Menschen stellen, die nach Land, Wohnraum, Arbeit und einem guten Leben verlangen. Das ursprüngliche »gute Leben«, das nicht das »dolce vita« oder das »dolce far niente« ist, nein. Das gute menschliche Leben, das uns in Harmonie mit der ganzen Menschheit, mit der ganzen Schöpfung bringt.
Außerdem möchte ich uns alle, die religiösen Führer, bitten, niemals den Namen Gottes zu benutzen, um Kriege oder Putsche anzuheizen. Stehen wir den Völkern, den Arbeitern, den einfachen Menschen bei und kämpfen wir gemeinsam mit ihnen dafür, dass die ganzheitliche menschliche Entwicklung Wirklichkeit wird. Lasst uns Brücken der Liebe bauen, damit die Stimme der Peripherie mit ihrem Klagen, aber auch mit ihrem Singen und ihrer Freude im Rest der Gesellschaft keine Angst, sondern Empathie hervorruft.
Und so bitte ich beharrlich.
Es ist notwendig, dass wir gemeinsam den populistischen Diskursen der Intoleranz, der Fremdenfeindlichkeit, der Aporophobie - dem Hass auf die Armen - sowie all jenen entgegentreten, die uns zu Gleichgültigkeit, Meritokratie und Individualismus verleiten. Diese Narrative haben nur dazu gedient, unsere Völker zu spalten und unsere poetische Fähigkeit, unsere Fähigkeit, gemeinsam zu träumen, zu untergraben und zu auszuschalten.
3. Lasst uns gemeinsam träumen!
Schwestern und Brüder, lasst uns gemeinsam träumen! Und da ich euch darum bitte, möchte ich mit euch zusammen auch einige Überlegungen über die Zukunft anstellen, die wir aufbauen und erträumen müssen. Ich sagte Überlegungen, aber vielleicht sollte man Träume sagen, denn in diesem Moment reichen unser Verstand und unsere Hände nicht aus, wir brauchen auch unser Herz und unsere Vorstellungskraft: Wir müssen träumen, um nicht rückwärts zu gehen. Wir müssen diese wunderbare Fähigkeit des Menschen nutzen, die Vorstellungskraft, jenen Ort, an dem Intelligenz, Intuition, Erfahrung und historisches Gedächtnis zusammentreffen, um zu schaffen, zu komponieren, zu wagen und zu riskieren. Lasst uns gemeinsam träumen, denn es sind die Träume von Freiheit und Gleichheit, von Gerechtigkeit und Würde, die Träume von Geschwisterlichkeit, die die Welt verbessert haben. Und ich bin überzeugt, dass durch diese Träume Gottes Traum für uns alle, die wir seine Kinder sind, durchscheint.
Lasst uns gemeinsam träumen, träumt untereinander, träumt mit anderen. Wisst, dass ihr aufgerufen seid, an den großen Veränderungsprozessen teilzunehmen, wie ich euch in Bolivien gesagt habe: »Ich wage, Ihnen zu sagen, dass die Zukunft der Menschheit großenteils in Ihren Händen liegt, in Ihren Fähigkeiten, sich zusammenzuschließen und kreative Alternativen zu fördern« (Ansprache an die Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9. Juli 2015). Es liegt in euren Händen.
»Aber das sind doch unerreichbare Dinge«, wird jemand sagen. Ja, aber sie haben die Fähigkeit, uns in Bewegung zu setzen, uns auf den Weg zu bringen. Darin liegt eure ganze Stärke, euer ganzer Wert. Weil ihr in der Lage seid, über die kurzsichtigen Selbstrechtfertigungen und menschlichen Konventionen hinauszugehen, die nur die Dinge, so wie sie sind, weiter rechtfertigen können. Träumt! Träumt gemeinsam. Verfallt nicht in diese harte und verlierende Resignation … Der Tango drückt es gut aus: »Komm schon, alles ist gut! Es ist alles das Gleiche. Dort unten in der Hölle werden wir uns treffen!« Nein, nein, bitte, fallt nicht darauf herein. Träume sind immer gefährlich für diejenigen, die den Status quo verteidigen, weil sie die Lähmung herausfordern, die der Egoismus der Starken und der Konformismus der Schwachen aufzwingen wollen. Und hier gibt es eine Art Pakt, der nicht geschlossen wurde, aber unbewusst da ist: der zwischen dem Egoismus der Starken und dem Konformismus der Schwachen. Aber so kann es nicht funktionieren. Träume überschreiten die engen Grenzen, die uns auferlegt sind, und schlagen neue mögliche Welten vor. Und ich spreche nicht von oberflächlichen Fantasien, die ein gutes Leben mit Spaß verwechseln, was nichts anderes ist als ein Zeitvertreib, der die Sinnleere auffüllt und somit jeder Ideologie des Tages ausgeliefert ist. Nein, das ist es nicht, sondern der Traum von einem guten Leben in Harmonie mit der ganzen Menschheit und der Schöpfung.
Was aber ist eine der größten Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind? Im Laufe meines Lebens - ich bin ja keine fünfzehn Jahre mehr, ich habe einige Erfahrung - habe ich feststellen können, dass man nie so wie vorher aus einer Krise herauskommt. Wir werden aus dieser Pandemiekrise nicht so wie vorher herauskommen: Entweder werden wir besser oder schlechter sein, als wir es vorher waren. Wir werden nie wieder dieselben sein. Und heute müssen wir uns gemeinsam, immer zusammen, die Frage stellen: »Wie kommen wir aus dieser Krise heraus? Besser oder schlechter?« Natürlich wollen wir besser sein, aber dazu müssen wir die Fesseln des leicht zu Erreichenden und der passiven Akzeptanz des »Alternativlosen«, des »einzig möglichen Systems« sprengen, jener Resignation, die uns zerstört und uns dazu bringt, nur noch in ein »jeder rette sich selber« zu flüchten. Und dafür müssen wir träumen. Es beunruhigt mich, dass, während wir noch gelähmt sind, bereits Projekte im Gange sind, um dieselbe sozioökonomische Struktur, die wir vorher hatten, wieder aufzurüsten, weil das einfacher ist. Lasst uns den schwierigen Weg wählen, damit wir besser herauskommen.
In Fratelli tutti habe ich das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als deutlichste Darstellung dieser anspruchsvollen Entscheidung im Evangelium verwendet. Ein Freund von mir hat mir erzählt, dass die Figur des barmherzigen Samariters von einer bestimmten Kulturindustrie mit einem Schwachkopf assoziiert wird. Dies ist die Verzerrung, die den depressiven Hedonismus hervorruft, der die transformierende Kraft der Menschen, insbesondere der Jugend, neutralisieren soll.
Wisst ihr, was mir jetzt neben den Volksbewegungen in den Sinn kommt, wenn ich an den barmherzigen Samariter denke? Wisst ihr, was mir dazu einfällt? Die Proteste gegen den Tod von George Floyd. Es ist klar, dass diese Art von Reaktion gegen soziales, rassistisches oder chauvinistisches Unrecht durch politische Machenschaften oder was auch immer manipuliert oder ausgenutzt werden kann; aber das Wichtigste ist, dass es bei dieser Demonstration gegen diesen Tod den »kollektiven Samariter« gab (der kein Dummkopf war!). Diese Bewegung ist nicht einfach vorbeigegangen, als sie sah, welche Wunde der Menschenwürde durch einen solchen Machtmissbrauch zugefügt wurde. Die Volksbewegungen sind nicht nur soziale Dichter, sondern auch »kollektive Samariter«.
In diesen Prozessen gibt es so viele junge Menschen, dass ich Hoffnung spüre …; aber es gibt auch viele andere junge Menschen, die traurig sind, die vielleicht, um etwas in dieser Welt zu spüren, auf die billigen Trostpflaster zurückgreifen müssen, die das Konsum- und Narkotisierungssystem bietet. Und andere - das ist traurig - entscheiden sich dafür, ganz aus dem System auszusteigen. Die Selbstmordstatistiken für Jugendliche werden nicht in ihrer ganzen Realität veröffentlicht. Was ihr tun, ist sehr wichtig, aber es ist auch wichtig, dass es euch gelingt, heutige und künftige Generationen mit dem anzustecken, was euer Herz entfacht. Damit habt ihr eine doppelte Aufgabe oder Verantwortung. Wie der barmherzige Samariter auf all jene achten, die längs dem Weg verwundet liegen, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass sich viele andere dieser Haltung anschließen: Die Armen und Unterdrückten der Erde verdienen es, unser gemeinsames Haus verlangt es von uns.
Ich möchte einige Wege aufzeigen. Die Soziallehre der Kirche enthält nicht alle Antworten, aber sie enthält einige Grundsätze, die auf diesem Weg helfen können, die Antworten zu konkretisieren und sowohl Christen als auch Nicht-Christen zu helfen. Es überrascht mich manchmal, dass jedes Mal, wenn ich von diesen Grundsätzen spreche, einige Leute überrascht sind, und dann wird der Papst unter eine Reihe von Schlagwörtern eingeordnet, die jede Reflexion nur auf abwertende Adjektive reduzieren. Das macht mich nicht wütend, es macht mich traurig. Das ist Teil der postfaktischen Struktur, die darauf abzielt, jede humanistische Forschungsalternative zur kapitalistischen Globalisierung zunichte zu machen; das ist Teil der Wegwerfkultur und Teil des technokratischen Paradigmas.
Die von mir dargelegten Grundsätze sind maßvoll, menschlich und christlich und wurden in dem vom damaligen Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden3 erstellten Kompendium zusammengefasst. Es ist ein kleines Handbuch der Soziallehre der Kirche. Und manchmal, wenn die Päpste, sei es ich, Benedikt oder Johannes Paul II., etwas sagen, gibt es Leute, die sich fragen: »Woher hat er denn das?« Es ist die traditionelle Lehre der Kirche. Da gibt es eine Menge Unwissenheit. Die Grundsätze, die ich darlege, finden sich in diesem Buch in Kapitel vier. Ich möchte das klarstellen: Sie sind in diesem Kompendium enthalten, und dieses Kompendium wurde vom Heiligen Johannes Paul II. in Auftrag gegeben. Ich empfehle euch und allen Verantwortlichen in Gesellschaft, Gewerkschaft, Religion, Politik und Wirtschaft die Lektüre.
Im vierten Kapitel dieses Dokuments finden wir Grundsätze wie die vorrangige Option für die Armen, die universelle Bestimmung der Güter, die Solidarität, die Subsidiarität, die Partizipation, das Gemeinwohl, die konkrete Vermittlungen sind, um die Frohe Botschaft des Evangeliums auf sozialer und kultureller Ebene umzusetzen. Und es macht mich traurig, wenn einige Brüder der Kirche verärgert sind, wenn wir an diese Orientierungen erinnern, die zur gesamten Tradition der Kirche gehören. Aber der Papst kann nicht umhin, an diese Lehre zu erinnern, auch wenn sie die Menschen oft verärgert, denn es geht nicht um den Papst, sondern um das Evangelium.
In diesem Zusammenhang möchte ich also kurz auf einige der Grundsätze eingehen, auf die wir uns bei der Erfüllung unseres Auftrags stützen. Ich werde zwei oder drei nennen, nicht mehr. Das eine ist der Grundsatz der Solidarität. Solidarität nicht nur als moralische Tugend, sondern als soziales Prinzip, ein Prinzip, das darauf abzielt, ungerechte Systeme zu bekämpfen, um eine Kultur der Solidarität aufzubauen, die - so heißt es im Kompendium wörtlich - »die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ›Gemeinwohl‹ einzusetzen» ist (Nr. 193).
Ein weiterer Grundsatz besteht darin, die Partizipation und Subsidiarität zwischen den Bewegungen und den Völkern anzuregen und zu fördern, wodurch jedes autoritäre System, jeder Zwangskollektivismus und jedes staatszentrierte System begrenzt werden kann. Das Gemeinwohl darf nicht als Vorwand dienen, um Privatinitiative, lokale Identität oder Gemeinschaftsprojekte zu unterdrücken. Daher fördern diese Grundsätze eine Wirtschaft und eine Politik, die die Rolle der Volksbewegungen, »die Familie, die Gruppen, die Verbände, die örtlichen territorialen Gegebenheiten, kurz: diejenigen Assoziationsformen in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Kultur, Sport, Freizeit, Beruf oder Politik […] berücksichtigen, die die Personen spontan ins Leben rufen und die ihnen ein effektives soziales Wachstum ermöglichen«. Dies steht in Nummer 185 des Kompendiums.
Wie ihr seht, liebe Brüder und Schwestern, handelt es sich um ausgewogene Grundsätze, die in der Soziallehre der Kirche fest verankert sind. Ich glaube, dass wir mit diesen beiden Grundsätzen den nächsten Schritt vom Traum zur Tat machen können. Denn es ist Zeit zu handeln.
4. Zeit zu Handeln
Die Leute sagen oft zu mir: »Heiliger Vater, wir sind uns da einig, aber was sollen wir konkret tun?« Ich habe keine fertige Antwort, also müssen wir gemeinsam träumen und sie gemeinsam finden. Es gibt jedoch konkrete Maßnahmen, die vielleicht einige bedeutende Veränderungen ermöglichen können. Dies sind Maßnahmen, die in euren Dokumenten, in euren Reden zu finden sind und die ich sehr berücksichtigt habe, über die ich nachgedacht und Experten konsultiert habe. Bei früheren Treffen haben wir über städtische Integration, landwirtschaftliche Familienbetriebe und die Volkswirtschaft gesprochen. Zu diesen, an deren Umsetzung wir weiterhin gemeinsam arbeiten müssen, möchte ich noch zwei weitere hinzufügen: den Universallohn und die Verkürzung des Arbeitstages.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) oder ein Universallohn, damit jeder Mensch auf dieser Welt Zugang zu den grundlegendsten Lebensbedürfnissen hat. Es ist richtig, für eine menschenwürdige Verteilung dieser Ressourcen zu kämpfen. Und es ist die Aufgabe der Regierungen, Steuer- und Umverteilungssysteme einzuführen, damit der Reichtum der einen Seite gerecht verteilt wird, ohne dass dies eine unerträgliche Belastung bedeutet, insbesondere für die Mittelschicht - die im Allgemeinen bei solchen Konflikten am meisten leidet. Vergessen wir nicht, dass der große Reichtum von heute die Frucht der Arbeit, der wissenschaftlichen Forschung und der technischen Innovation von Tausenden von Männern und Frauen über Generationen ist.
Eine weitere Möglichkeit ist die Verkürzung des Arbeitstages. Das Grundeinkommen ist eine Möglichkeit, die andere ist die Verkürzung des Arbeitstages. Und das muss ernsthaft analysiert werden. Im 19. Jahrhundert arbeiteten die Arbeiter zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden pro Tag. Als sie den Achtstundentag einführten, brach nichts zusammen, wie einige Branchen vorausgesagt hatten. Ich bestehe also darauf, dass wir uns dringend mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir die Arbeitszeiten reduzieren können, damit mehr Menschen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Es darf nicht so viele Menschen geben, die unter Überarbeitung leiden, und so viele, die unter Arbeitsmangel leiden.
Ich denke, diese Maßnahmen sind notwendig, aber natürlich nicht ausreichend. Sie lösen weder das grundlegende Problem, noch garantieren sie den Zugang zu Land, Wohnraum und Arbeit in der Quantität und Qualität, die landlosen Bauern, Familien ohne sicheres Zuhause und prekär Beschäftigten zusteht. Sie werden auch nicht die enormen Umweltprobleme lösen, vor denen wir stehen. Ich wollte sie aber erwähnen, weil es sich um mögliche Maßnahmen handelt, die einen positiven Richtungswechsel markieren würden.
Es ist gut zu wissen, dass wir damit nicht allein sind. Die Vereinten Nationen haben versucht, mit den so genannten Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) einige Ziele festzulegen, aber leider sind sie unseren Völkern und den Peripherien nicht bekannt, was uns daran erinnert, wie wichtig es ist, dass wir uns austauschen und alle in diese gemeinsame Suche einbeziehen.
Schwestern und Brüder, ich bin überzeugt, dass man die Welt von der Peripherie aus besser sehen kann. Wir müssen den Peripherien zuhören, ihnen die Türen öffnen und sie teilhaben lassen. Das Leiden der Welt lässt sich besser verstehen, wenn man mit den Leidenden zusammen ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, Männer und Frauen, die am eigenen Leib unter Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Machtmissbrauch, Entbehrungen und Fremdenfeindlichkeit gelitten haben, besser verstehen, was andere erleben, und in der Lage sind, ihnen realistisch Wege der Hoffnung zu eröffnen. Wie wichtig ist es, dass eure Stimme gehört wird und überall dort vertreten ist, wo Entscheidungen getroffen werden! Bietet sie als Zusammenarbeit an, bietet sie als moralische Gewissheit an, was getan werden muss. Bemüht euch, eurer Stimme Gehör zu verschaffen, und lasst euch auch dort nicht in eine Schublade stecken und nicht bestechen. Zwei Worte, die eine sehr große Bedeutung haben, auf die ich jetzt nicht eingehen werde.
Lasst uns die Verpflichtung bekräftigen, die wir in Bolivien eingegangen sind: die Wirtschaft in den Dienst der Völker zu stellen, um einen dauerhaften Frieden zu schaffen, der auf sozialer Gerechtigkeit und der Sorge um das gemeinsame Haus beruht. Verfolgt weiterhin eure Ziele in Bezug auf Land, Haus und Arbeit. Träumt gemeinsam weiter. Und danke, vielen Dank, dass ich mit euch träumen darf.
Wir bitten Gott, seinen Segen über unsere Träume auszuschütten. Wir sollen die Hoffnung nicht verlieren. Erinnern wir uns an das Versprechen, das Jesus seinen Jüngern gab: »Ich bin mit euch alle Tage« (Mt 28,20); und während ich daran erinnere, möchte ich euch in diesem Augenblick meines Lebens sagen, dass auch ich mit euch sein werde. Das Wichtigste ist, dass ihr euch bewusst seid, dass Er bei euch ist. Danke!
FUSSNOTEN
1 »The Hunger Virus multiplies«, Oxfam-Bericht vom 9. Juli 2021, basierend auf dem Global Report on Food Crises (GRFC) des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen.
2 Brief an die Volksbewegungen, 12. April 2020.
3 Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 2004.
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