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SCHREIBEN DES HEILIGEN VATERS
AN DIE JÜDISCHEN BRÜDER UND SCHWESTERN IN ISRAEL

Liebe Brüder und Schwestern,                                                                        Vatikanstadt, 2. Februar 2024

wir erleben eine Zeit qualvollen Leids. In der ganzen Welt nehmen Kriege und Spaltungen zu. Wir befinden uns in der Tat, wie ich vor einiger Zeit sagte, in einer Art »Weltkrieg in Stücken«, mit schwerwiegenden Folgen für das Leben der Bevölkerung.

Leider ist auch das Heilige Land von diesem Schmerz nicht verschont geblieben und seit dem 7. Oktober in den Abgrund einer noch nie dagewesenen Spirale der Gewalt gestürzt. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich sehe, was im Heiligen Land geschieht, durch die Übermacht von so vielen Spaltungen und so viel Hass.

Die ganze Welt schaut mit Besorgnis und Trauer auf das, was in diesem Land geschieht. Diese Empfindungen sind Ausdruck einer besonderen Nähe und Zuneigung zu den Völkern, die das Land bewohnen, das Zeuge der Offenbarungsgeschichte geworden ist.

Dennoch muss man leider feststellen, dass dieser Krieg in den öffentlichen Meinungen weltweit auch Haltungen der Spaltung verursacht hat, die zuweilen in Formen des Antisemitismus und Antijudaismus münden. Ich kann nur wiederholen, was auch meine Vorgänger mehrfach klar gesagt haben: Die Beziehung, die uns mit euch verbindet, ist eine besondere, einzigartige Beziehung, ohne natürlich jemals die Beziehung zu verdunkeln, die die Kirche zu den anderen hat und die Verpflichtung auch ihnen gegenüber. Der Weg, den die Kirche mit euch eingeschlagen hat, dem alten Bundesvolk, weist jede Form des Antijudaismus und des Antisemitismus zurück und verurteilt klar und deutlich die Äußerungen des Hasses gegen die Juden und das Judentum als eine Sünde gegen Gott. Gemeinsam mit euch sind wir Katholiken sehr besorgt über den schrecklichen Anstieg der Angriffe auf Juden in der ganzen Welt. Wir hatten gehofft, dass »nie wieder« ein Wort sein würde, auf das die jungen Generationen hören, und doch sehen wir jetzt, dass der Weg, den wir gehen müssen, eine immer engere Zusammenarbeit erfordert, um diese Phänomene auszurotten.

Mein Herz ist euch, dem Heiligen Land, allen Völkern, die es bewohnen, Israelis und Palästinensern, nahe und ich bete, dass der Wunsch nach Frieden bei allen überwiegen möge. Ich möchte, dass ihr wisst, dass ihr meinem Herzen und dem Herzen der Kirche nahe seid. Angesichts der vielen Nachrichten, die ich von verschiedenen jüdischen Freunden und Organisationen aus der ganzen Welt erhalten habe, und eures Briefes, den ich sehr schätze, verspüre ich den Wunsch, euch meiner Nähe und Zuneigung zu versichern. Ich umarme jeden einzelnen von euch, insbesondere diejenigen, die von Angst, Schmerz, Furcht und auch Wut verzehrt werden.

Es ist schwierig, Worte zu finden, angesichts einer Tragödie, wie sie sich in den letzten Monaten ereignet hat. Gemeinsam mit euch beweinen wir die Toten, die Verwundeten, die traumatisierten Menschen und bitten Gott, den Vater, dass er eingreifen, dass er Krieg und Hass ein Ende setzen möge, diesen nie enden wollenden Kreisläufen, die die ganze Welt gefährden. Besonders beten wir für die Rückkehr der Geiseln, freuen uns über diejenigen, die bereits nach Hause zurückgekehrt sind, und beten, dass alle anderen sich ihnen bald an-schließen werden. Ich möchte noch hinzufügen, dass wir niemals die Hoffnung auf einen möglichen Frieden verlieren dürfen und dass wir alles tun müssen, um ihn zu fördern, indem wir jede Form von Resignation und Mutlosigkeit ablehnen. Wir müssen auf Gott schauen, die einzige Quelle sicherer Hoffnung. So sagte ich schon vor zehn Jahren: »Die Geschichte lehrt uns, dass unsere Kräfte nicht ausreichen. Mehr als einmal waren wir dem Frieden nahe, doch dem Bösen ist es mit verschiedenen Mitteln gelungen, ihn zu verhindern. Deshalb sind wir hier, denn wir wissen und glauben, dass wir der Hilfe Gottes bedürfen. Wir lassen nicht von unseren Verantwortlichkeiten ab, sondern wir rufen Gott an als Akt höchster Verantwortung unserem Gewissen und unseren Völkern gegenüber. Wir haben einen Ruf vernommen, und wir müssen antworten – den Ruf, die Spirale des Hasses und der Gewalt zu durchbrechen, sie zu durchbrechen mit einem einzigen Wort: ›Bruder‹. Doch um dieses Wort zu sagen, müssen wir alle den Blick zum Himmel erheben und uns als Söhne des einen Vaters erkennen« (Vatikanische Gärten, 8. Juni 2014).

In Zeiten der Trostlosigkeit fällt es uns sehr schwer, einen Zukunftshorizont zu sehen, in dem Licht an die Stelle von Dunkelheit tritt, Freundschaft an die Stelle des Hasses,  Zusammenarbeit an die Stelle von Krieg tritt. Doch sind wir, als Juden und Katholiken, Zeugen eines solchen Horizonts. Und wir müssen dies tun, zunächst gerade im Heiligen Land, wo wir uns gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen und unser Möglichstes tun wollen, um Beziehungen zu schaffen, die neue Horizonte des Lichts für alle, Israelis wie Palästinenser, eröffnen können.

Beide, Juden und Katholiken, müssen wir uns auf diesem Weg der Freundschaft, der Solidarität und der Zusammenarbeit engagieren, auf der Suche nach Möglichkeiten zur Wiederherstellung einer zerstörten Welt, indem wir überall und insbesondere im Heiligen Land zusammenarbeiten, um die Fähigkeit wiederzuerlangen, im Angesicht eines jeden Menschen das Bild Gottes zu sehen, nach dem wir geschaffen sind.

Es bleibt  gemeinsam noch viel zu tun, um sicherzustellen, dass die Welt, die wir denen hinterlassen, die nach uns kommen, eine bessere Welt sein wird, aber ich bin zuversichtlich, dass wir weiterhin im Hinblick auf dieses Ziel zusammenarbeiten können.

Ich umarme euch brüderlich.

                                                                            FRANZISKUS



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