WELTTAG DER ARMEN
PREDIGT VON PAPST FRANZISKUS
Vatikanische Basilika
33. Sonntag im Jahreskreis, 13. November 2022
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Während einige über die äußere Schönheit des Tempels sprechen und seine Steine bewundern, lenkt Jesus die Aufmerksamkeit auf die unruhigen und dramatischen Ereignisse, die die menschliche Geschichte prägen. Denn während der von Menschenhand erbaute Tempel vergehen wird, so wie alle Dinge dieser Welt vergehen, ist es wichtig, die Zeiten zu erkennen, in denen wir leben, um auch inmitten der Umwälzungen der Geschichte Jünger des Evangeliums zu bleiben.
Und um uns den Weg der Unterscheidung zu zeigen, gibt uns der Herr zwei Ermahnungen: Lasst euch nicht irreführen und legt Zeugnis ab.
Als Erstes sagt Jesus seinen Zuhörern, die sich Sorgen darüber machen, „wann“ und „wie“ die beängstigenden Ereignisse eintreten werden, von denen er spricht: »Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. - Lauft ihnen nicht nach!« (Lk 21,8). Und er fügt hinzu: »Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken!« (V. 9). Und dies passt zum gegenwärtigen Zeitpunkt gut. Von welcher Irreführung will uns Jesus also befreien? Von der Versuchung, dramatische Ereignisse auf abergläubische oder pessimistische Weise zu deuten, als ob wir bereits dem Ende der Welt nahe wären und es sich nicht mehr lohnen würde, sich für irgendetwas Gutes einzusetzen. Wenn wir so denken, lassen wir uns von der Angst leiten und suchen dann vielleicht mit krankhafter Neugierde nach Antworten in dem, was Magier oder Horoskope auftischen, an denen es nie mangelt – und heutzutage suchen viele Christen Magier auf und schauen auf das Horoskop, als ob es die Stimme Gottes wäre; oder aber wir vertrauen fantastischen Theorien, die von irgendeinem „Messias“ der letzten Stunde aufgestellt werden und in der Regel immer defätistisch und verschwörungstheoretisch sind – auch die Verschwörungspsychologie ist schlecht, sie schadet uns. Hier ist der Geist des Herrn nicht zu finden: Weder im Aufsuchen von „Gurus“ noch in diesem Verschwörungsgeist; dort ist der Herr nicht. Jesus warnt uns: „Lasst euch nicht irreführen“, lasst euch nicht von leichtgläubiger Neugier blenden, begegnet den Ereignissen nicht mit Angst, sondern lernt vielmehr, sie mit den Augen des Glaubens sehen, in der Gewissheit, dass durch die Nähe zu Gott „euch nicht einmal ein Haar gekrümmt wird“ (vgl. V. 18).
Auch wenn die Geschichte der Menschheit mit dramatischen Ereignissen, schmerzhaften Situationen, Kriegen, Revolutionen und Katastrophen gespickt ist, so ist es doch ebenso wahr – sagt Jesus –, dass all dies nicht das Ende ist (vgl. V. 9); es ist kein guter Grund, sich von Angst lähmen zu lassen oder dem Defätismus derjenigen nachzugeben, die meinen, alles sei bereits verloren und es sei sinnlos, sich im Leben zu engagieren. Der Jünger des Herrn lässt sich nicht durch Resignation verdrießen, er lässt sich auch in den schwierigsten Situationen nicht entmutigen, denn sein Gott ist der Gott der Auferstehung und der Hoffnung, der immer wieder aufrichtet: Mit ihm kann man den Blick immer wieder nach oben richten, neu beginnen und erneut aufbrechen. Der Christ fragt sich also im Angesicht der Prüfung – jedweder Prüfung, sei sie kulturell, geschichtlich oder persönlich: „Was sagt uns der Herr durch diese Krisensituation?“. Auch ich stelle heute diese Frage: Was sagt uns der Herr angesichts dieses dritten Weltkrieges? Was sagt uns der Herr? Und wenn schlimme Ereignisse eintreten, die Armut und Leid verursachen, fragt sich der Christ: „Was kann ich konkret Gutes tun?“. Nicht flüchten, sondern sich fragen: Was sagt mir der Herr und was kann ich Gutes tun?
Es ist kein Zufall, dass die zweite Ermahnung Jesu, nach „Lasst euch nicht irreführen“, positiv formuliert ist. Er sagt: »Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können« (V. 13). Es ist eine Gelegenheit, Zeugnis abzulegen. Ich möchte dieses schöne Wort betonen: Gelegenheit. Es bedeutet, die Möglichkeit zu haben, aus den Umständen des Lebens etwas Gutes zu machen, auch wenn sie nicht ideal sind. Das ist eine schöne, typisch christliche Kunst: nicht Opfer dessen zu bleiben, was passiert - der Christ ist nicht Opfer und die Psychologie der Opferrolle ist schlecht, sie schadet uns -, sondern die Chance zu ergreifen, die in allem verborgen ist, was uns widerfährt, das Gute, das möglich ist – das Wenige an Gutem, das zu tun möglich ist und selbst aus negativen Situationen heraus bewirkt werden kann. Jede Krise birgt eine Möglichkeit und bietet Gelegenheiten zum Wachstum. Denn jede Krise ist offen für die Gegenwart Gottes, für die Gegenwart der Menschlichkeit. Was aber flößt uns der böse Geist ein? Er will, dass wir die Krise in Konflikt verwandeln, und der Konflikt ist immer verschlossen, ohne Horizont und ohne Ausweg. Nein. Leben wir die Krise als menschliche Personen, als Christen und wandeln wir sie nicht in Konflikt um, denn jede Krise ist eine Chance und bietet Gelegenheit zum Wachstum. Das wird uns klar, wenn wir uns mit unserer persönlichen Geschichte beschäftigen: Oft machen wir die wichtigsten Fortschritte im Leben gerade in manchen Krisen, in Situationen der Prüfung, des Kontrollverlusts und der Unsicherheit. Und dann verstehen wir die Aufforderung, die Jesus heute direkt an mich, an dich, an jeden einzelnen von uns richtet: Was tust du, was tue ich, während du um dich herum bestürzende Ereignisse siehst, während Kriege und Konflikte aufkommen, während sich Erdbeben, Hungersnöte und Seuchen ereignen? Lenkst du dich ab, um nicht daran zu denken? Amüsierst du dich, um dich nicht zu sehr damit beschäftigen zu müssen? Schlägst du den Weg der Weltlichkeit ein, diese dramatischen Situationen nicht anzupacken, sie sich nicht zu Herzen zu nehmen? Schaust du weg, um nichts zu sehen? Passt du dich unterwürfig und resigniert dem an, was passiert? Oder werden diese Situationen zu Gelegenheiten, um das Evangelium zu bezeugen? Heute muss sich jeder von uns angesichts so vieler Bedrängnisse, angesichts dieses so grausamen dritten Weltkriegs, angesichts des Hungers so vieler Kinder, so vieler Menschen fragen: Kann ich verschwenderisch sein, das Geld verschwenden, mein Leben verschwenden, den Sinn meines Lebens verschwenden, ohne Mut zu fassen und weiterzugehen?
Brüder und Schwestern, an diesem Welttag der Armen ist das Wort Jesu eine deutliche Mahnung, jene innere Taubheit zu durchbrechen, die wir alle aufweisen und die uns daran hindert, den erstickten Schmerzensschrei der Schwächsten zu hören. Auch heute leben wir in verwundeten Gesellschaften und sind – es genügt, an die Grausamkeiten zu denken, die das ukrainische Volk erleidet - Zeugen von Gewalt, Ungerechtigkeit und Verfolgung, genau wie es uns das Evangelium berichtet hat. Darüber hinaus müssen wir uns der Krise stellen, die durch den Klimawandel und die Pandemie ausgelöst worden ist und eine Schneise nicht nur physischer, sondern auch psychologischer, wirtschaftlicher und sozialer Übel hinterlassen hat. Auch heute, Brüder und Schwestern, sehen wir, wie sich Völker gegeneinander erheben, und wir erleben angsterfüllt, wie sich Konflikte massiv ausweiten, wie das Unheil des Krieges den Tod so vieler unschuldiger Menschen verursacht und das Gift des Hasses verbreitet. Auch heute, noch viel mehr als gestern, wandern viele bedrängte und entmutigte Brüder und Schwestern auf der Suche nach Hoffnung aus, und viele Menschen leben in prekären Situationen, weil sie keine Arbeit haben oder weil sie unter ungerechten und unwürdigen Bedingungen arbeiten müssen. Und auch heute, Brüder und Schwestern, sind die Armen die von jeder Krise am stärksten betroffenen Opfer. Aber wenn unser Herz dumpf und gleichgültig ist, gelingt es uns nicht, ihren schwachen Schmerzensschrei zu hören, mit ihnen und um sie zu weinen, zu sehen, wie viel Einsamkeit und Angst sich auch in den vergessenen Winkeln unserer Städte verstecken. Man muss in die Winkel der Städte gehen, diese versteckten, dunklen Winkel: Dort sieht man viel Elend, viel Schmerz und ausgegrenzte Armut.
Machen wir uns die klare und deutliche Aufforderung des Evangeliums zu eigen, uns nicht irreführen zu lassen. Lasst uns nicht auf die Untergangspropheten hören; lassen wir uns nicht von den Sirenen des Populismus verführen, der die Bedürfnisse der Menschen instrumentalisiert und Lösungen vorschlägt, die zu einfach und oberflächlich sind. Lasst uns nicht den falschen „Messiassen“ nachlaufen, die im Namen des Profits Erfolgsrezepte verkünden, die nur dazu dienen, den Reichtum einiger weniger zu mehren während sie die Armen zur Marginalisierung verdammen. Im Gegenteil, lasst uns Zeugnis ablegen: Lasst uns inmitten der Dunkelheit Lichter der Hoffnung anzünden; nehmen wir in dramatischen Situationen die Gelegenheit wahr, das Evangelium der Freude zu bezeugen und eine geschwisterliche Welt, wenigstens eine etwas geschwisterlichere aufzubauen; lasst uns mutig für Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit und Frieden eintreten und immer den Schwächsten zur Seite stehen. Lasst uns nicht weglaufen, um heil aus der Geschichte herauszukommen, sondern lasst uns kämpfen, um dieser Geschichte, die wir durchleben, ein anderes Gesicht zu geben.
Und wo finden wir die Kraft für all das? Im Herrn. Im Vertrauen auf Gott, der Vater ist, der über uns wacht. Wenn wir ihm unser Herz öffnen, wird er in uns die Fähigkeit zur Liebe wachsen lassen. Das ist der Weg: in der Liebe zu wachsen. Nachdem Jesus nämlich von Situationen der Gewalt und des Terrors gesprochen hat, schließt er mit den Worten: »Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden« (V. 18). Aber was bedeutet das? Dass er mit uns ist, dass er unser Hüter ist, dass er mit uns geht. Habe ich diesen Glauben? Hast du diesen Glauben, dass der Herr mit dir geht? Das müssen wir uns immer wieder sagen, besonders in den schmerzlichsten Momenten: Gott ist Vater und er ist an meiner Seite, er kennt mich und liebt mich, er wacht über mich, er wird nicht müde, er kümmert sich um mich und mit ihm wird mir kein Haar gekrümmt werden. Und wie antworte ich darauf? Indem ich auf die Brüder und Schwestern blicke, die in Not sind, indem ich auf diese Wegwerfkultur blicke, die die Armen ausgrenzt, die die weniger bemittelten Personen ausgrenzt, die die alten Menschen ausgrenzt, die die Ungeborenen ausgrenzt … Wenn ich auf all das schaue, was spüre ich, das ich in diesem Augenblick als Christ tun muss?
Entscheiden wir uns, als von ihm Geliebte, diejenigen Söhne und Töchter zu lieben, die besonders ausgegrenzt sind. Der Herr ist da. Es gibt eine alte Tradition, die auch hier in den kleinen Dörfern Italiens noch von einigen Menschen gepflegt wird: Beim Weihnachtsessen einen Platz frei zu lassen für den Herrn, der sicher in Gestalt eines Armen an die Tür klopfen wird und diesen braucht. Und dein Herz, hat es immer einen freien Platz für diese Menschen? Mein Herz, hat es einen freien Platz für diese Menschen? Oder sind wir so beschäftigt mit Freunden, gesellschaftlichen Ereignissen, Verpflichtungen? Wir haben nie einen freien Platz für diese Menschen. Sorgen wir für die Armen, in denen Christus gegenwärtig ist, der unseretwegen arm wurde (vgl. 2 Kor 8,9). Er identifiziert sich mit dem Armen. Fühlen wir uns dafür verantwortlich, dass ihnen kein Haar gekrümmt wird. Wir können nicht wie jene, von denen das Evangelium spricht, dabei verweilen, die schönen Steine des Tempels zu bewundern, ohne den wahren Tempel Gottes zu erkennen, den Menschen, den Mann und die Frau, vor allem den Armen, in dessen Gesicht, in dessen Geschichte, in dessen Wunden Jesus zu finden ist. Das hat er so gesagt. Vergessen wir es nie.
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