PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Zwei Versuchungen
Donnerstag, 14. September 2017
(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 38, 22. September 2017)
Jesus ist nicht bloß ein »geistlicher Lehrer«, der »gute Ratschläge« gibt oder »ein wenig Trost« spendet. Aber ihm nachzufolgen bedeutet gewiss auch nicht, sich »einem spirituellen Masochismus « ohne Hoffnung hinzugeben, als sei man Protagonist »einer heidnischen Tragödie«. Vor diesen zwei Versuchungen warnte Papst Franziskus und rief in Erinnerung, dass »das Kreuz ein Geheimnis der Liebe ist« und dass es weder »Christus ohne Kreuz« noch das »Kreuz ohne Christus« geben kann. Diese Betrachtung unterbreitete der Papst am Donnerstag, 14. September, Fest der Kreuzerhöhung, an dem er nach der Sommerpause die Feier der heiligen Messen in Santa Marta wieder aufnahm. »Im Gebet haben wir gesagt, dass das Kreuz Geheimnis der Liebe sei, ein Geheimnis, das allein aus dem Herzen und aus der Liebe heraus verstanden werden kann«, merkte Franziskus an und bezog sich dabei auf das Tagesgebet. Und »wenn die Liturgie vom Kreuz spricht, sieht sie es als einen Baum und sagt: ›Es ist ein edler Baum, es ist ein treuer Baum.‹« Gerade »dies ist das Geheimnis der Liebe: das Edle der Liebe Jesu Christi, die Treue der Liebe Gottes«.
Doch, so der Papst, »es ist nicht immer leicht, das Kreuz zu begreifen, denn nur durch die Betrachtung kommt man in diesem Geheimnis der Liebe weiter«. In Bezug auf den Abschnitt aus dem Johannesevangelium (3,13-17) verdeutlichte Franziskus: »Als Jesus dieses Geheimnis der Liebe dem Nikodemus erklären will, benutzt er zwei Verben: hinaufsteigen, herabsteigen oder herabsteigen, hinaufsteigen.« Somit »ist dies das Geheimnis der Liebe: Jesus ist vom Himmel herabgestiegen, um uns alle dazu zu bringen, zum Himmel hinaufzusteigen: das ist das Geheimnis des Kreuzes«.
In der zweiten Lesung, so der Papst weiter, der dabei auf die Inhalte des Briefs an die Philipper (2,6-11) Bezug nahm, »erklärt Paulus dieses Hinaufsteigen und dieses Herabsteigen Jesu; und vom Herabsteigen Jesu sagt er: ›Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.‹« Das »ist das Herabsteigen Jesu: ganz hinab, bis zur Erniedrigung, er entäußerte sich selbst aus Liebe, und aus diesem Grund erhöhte ihn Gott und ließ ihn hinaufsteigen «. Deshalb gelte, so Franziskus: »Nur wenn es uns gelingt, dieses Herabstiegen bis zum Ende zu verstehen, können wir das Heil begreifen, das uns dieses Geheimnis der Liebe bietet.«
»Doch das ist nicht leicht«, so Franziskus erneut, »denn immer hat es in der Geschichte und in unserem Leben Versuchungen gegeben, zu erklären, oder sich die eine Hälfte zu nehmen und nicht die andere, nicht wahr?« Diesbezüglich »wandte sich Paulus mit einem deutlichen Wort an die Galater – ›ihr unvernünftigen Galater‹ –, als sie der Versuchung nachgegeben hatten, nicht in das Geheimnis der Liebe einzutreten, sondern es zu erklären. Paulus nennt sie: ›Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet? Wie die Schlange Eva bezaubert hatte, wie die Schlange in der Wüste die Israeliten vergiftet hatte. Wer hat euch verblendet, denen Jesus Christus als der Gekreuzigte gezeigt wurde?‹« In Wirklichkeit, erklärte der Papst, »wurden sie von einer Illusion eines Christus ohne Kreuz oder eines Kreuzes ohne Christus verblendet. Das sind die beiden Versuchungen; ein Christus ohne Kreuz, das heißt ein geistlicher Lehrer, der dich in Ruhe voranbringt, es gibt keine Leiden, oder du läufst wenigstens vor den Leiden weg und gehst«. Doch »ein Christus ohne Kreuz, der nicht der Herr ist: er ist ein Lehrer, nichts mehr. Und das ist es, was Nikodemus vielleicht suchte, ohne es zu wissen.« Und das »ist eine der Versuchungen. Ja, Jesus, der gute Lehrer, aber ohne Kreuz: wer hat euch mit diesem Bild betört?« Das genau ist »die Wut des Paulus. Sie hatten Jesus Christus vorgestellt, aber nicht als den Gekreuzigten.«
»Die andere Versuchung besteht im Kreuz ohne Christus, in der Angst, immer unten zu bleiben, erniedrigt, mit der Last der Sünde, ohne Hoffnung. Das ist eine Art ›spiritueller Masochismus‹. Nur das Kreuz, aber ohne Hoffnung, ohne Christus. Es ist dies ein tragisches Geheimnis, nicht? Wir können an die heidnischen Tragödien denken. « Doch »das Kreuz ist ein Geheimnis der Liebe, das Kreuz ist treu, das Kreuz ist edel«. »Heute können wir uns ein paar Minuten Zeit nehmen«, fasste der Papst zusammen und unterbreitete die Koordinaten einer Gewissenserforschung, »und ein jeder soll sich die Frage stellen:
Christus, der Gekreuzigte – ist er für mich Geheimnis der Liebe? Folge ich Jesus ohne Kreuz, einem spirituellen Meister, der mit Trost erfüllt, mit guten Ratschlägen? Folge ich dem Kreuz ohne Jesus, indem ich mich immer beklage, in diesem ›Masochismus‹ des Geistes?« Und weiter: »Lasse ich mich von diesem Geheimnis der Erniedrigung, der totalen Entäußerung und Erhöhung des Herrn tragen?« Abschießend sprach der Papst im Gebet die Hoffnung aus, »dass der Herr uns die Gnade schenke – ich sage nicht: das Geheimnis der Liebe zu begreifen, sondern in dieses Geheimnis einzutreten. Dann werden wir mit dem Herzen, mit dem Verstand, mit dem Leib, mit allem etwas verstehen.«
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