PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Die Geschichte von Kain und Abel
Montag, 13. Februar 2017
(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 8, 24. Februar 2017)
Papst Franziskus hat die Messe am Montag,´13. Februar, in der Kapelle von Santa Marta für einen besonderen Missionar gefeiert, der am darauffolgenden Mittwoch in den Osten aufbrechen sollte. »Ein Gedanke in Familie«, unterstrich der Papst, da es sich bei dem Missionar um den ehemaligen Generalsuperior der Gesellschaft Jesu, Pater Adolfo Nicolás Pachón, handelte. »Der Herr vergelte alles Gute, das er getan hat, und begleite ihn auf seiner neuen Mission. Danke, Pater Nicolás!«, sagte Franziskus an den Ordensmann gewandt, der mit ihm konzelebrierte. Von der ersten Lesung aus dem Buch Genesis (4,1-15.25) ausgehend, machte der Papst in seiner Predigt darauf aufmerksam, »dass es das erste Mal ist, dass in der Bibel das Wort Bruder fällt«.
Die Geschichte von Kain und Abel »ist die Geschichte einer Geschwisterlichkeit, die wachsen und schön sein sollte«, aber stattdessen »damit endet, zerstört zu werden«. Und »die Geschichte, die wir gehört haben, nahm ihren Anfang bei einer kleinen Eifersucht: nachdem Kain gesehen hatte, dass sein Opfer nicht angenommen wurde, war er sehr irritiert und begann, jenes Gefühl in sich zu schüren«. »Jene Irritation«, erklärte Franziskus, »war nicht nur in der Seele, sondern auch im Leib: sein Blick war gesenkt«. Und so »spricht der Herr wie ein Vater zum ihm: ›Warum bist du irritiert und warum senkt sich dein Blick? Wenn du recht tust, solltest du da nicht aufblicken? Wenn du aber nicht recht handelst, dann lauert an der Tür die Sünde; gegen dich ist dein Instinkt‹ vor, er zog es vor, in sich dieses Gefühl aufzukochen, es größer werden zu lassen, es wachsen zu lassen. Die Sünde, die er später begehen wird, sie lauert da hinter dem Gefühl. Und es wächst.« Gerade auf diese Weise »wachsen die Feindschaften unter uns: sie fangen mit etwas Kleinem an, mit einer Eifersucht, mit einer Neiderei, und dann wächst das und wir sehen das Leben ausschließlich von diesem Punkt aus, und jener Splitter wird für uns zu einem Balken: aber den Balken haben wir, er ist da«. So sehr, dass sich dann »unser Leben um diesen dreht, und er zerstört das Band der Brüderlichkeit, er zerstört das Geschwistersein«.
Auch wenn »wir unter diesem Instinkt zusammengekauert sind, in unserem Herzen, dann werden wir grün und gelb, wie man sagt: die Galle, als hätten wir kein Blut, als hätten wir Galle, so ist das«. Dies geht so weit, dass das, »was zählt, nur jener Mensch ist, was er Schlechtes getan hat«. Das »plagt uns, das verfolgt uns, und so wächst die Feindschaft, und es nimmt ein schlechtes Ende, immer«. Es endet also damit, dass »ich mich von meinem Bruder trenne: ›Das ist nicht mein Bruder, das ist ein Feind, er muss vernichtet werden, er muss fortgejagt werden!‹ Und so »vernichten sich die Leute, auf diese Weise zerstören Feindseligkeiten Familien, Völker, alles«. Dieses »sich krank Ärgern, immer damit geplagt«. Gerade »dies ist dem Kain geschehen, und am Ende hat er seinen Bruder umgebracht: ›Nein: da ist kein Bruder, da bin nur ich; da ist keine Brüderlichkeit, da bin nur ich!‹« Was »am Anfang geschehen ist, warnte Franziskus, kann uns allen geschehen, das ist eine Möglichkeit«. Aus diesem Grunde handelt es sich um einen »Prozess«, der »sofort gestoppt werden muss, von Anfang an, angefangen bei der ersten Verbitterung«. Er muss gestoppt werden, denn »die Verbitterung ist nicht christlich: der Schmerz ja, die Verbitterung nein«. Auch »der Groll ist nicht christlich: der Schmerz ja, der Groll nein«. »Wie viele Feindschaften, wie viele Risse« gibt es dagegen.
»Heute sind hier die neuen Pfarrer«, sagte der Papst weiter in Bezug auf die anwesenden Priester und merkte an: »Auch in unseren Presbyterien, in unseren Bischofskollegien: wie viele Spaltungen nehmen doch auf diese Weise ihren Anfang!« Und vielleicht fragt man sich: »Warum haben sie dem da jenen Sitz gegeben und nicht mir? Und warum dem?« Mit »Kleinigkeiten, Rissen zerstört man so die Geschwisterlichkeit«. »Was macht der Herr?« angesichts dieser Haltung des Menschen. Der Abschnitt aus dem Buch Genesis lässt vermuten, dass er uns wie Kain »fragt: ›Wo ist dein Bruder Abel?‹«. Für den Papst »ist die Antwort Kains ironisch: ›Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?‹«. Doch dem ist zu entgegnen: »Ja, du bist der Hüter deines Bruders.« Seinerseits »hätte Kain antworten können: ›Ja, ich weiß, wo Abel ist, aber ich weiß nicht, wo mein Bruder ist, denn Abel ist nicht mein Bruder: ich habe jenes Geschwistersein zerstört‹«. Es ist, als sage man: »Ich weiß, wo der oder die oder diese oder diese anderen sind: ich weiß es, aber ich weiß nicht, wo meine Geschwister sind«. Denn »wenn man in diesen Prozess gerät, der mit der Zerstörung der Geschwisterlichkeit endet, kann man das sagen: ich weiß, ja, wo der oder die ist, aber ich weiß nicht, wo mein Bruder, wo meine Schwester ist, denn für mich sind der oder die keine Brüder oder Schwestern«.
Diesbezüglich, so weiter im Buch Genesis, »ist der Herr stark: ›Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden.‹« Es ist wahr, fuhr Franziskus fort, dass »ein jeder von uns sagen kann: ›Pater, ich habe nie getötet, nie!‹« Doch »denken wir an das gestrige Evangelium: wenn du ein böses Gefühl gegenüber deinem Bruder hegst, dann hast du ihn getötet; wenn du deinen Bruder beleidigst, dann hast du ihn in deinem Herzen getötet«. Denn »das Töten ist ein Prozess, der im Kleinen anfängt, wie hier«. Jeder von uns – »wenigstens ich schreibe mich in die Liste ein«, präzisierte der Papst – »soll daran denken: Wie ofthabe ich diesen übergangen, wie oft war ich eifersüchtig, diesen habe ich da und dort und dort abgetrennt«. Und weiter: »Um die Wahrheit zu sagen: wie oft habe ich zum Herrn gesagt: ›Ich weiß, wo der oder jener ist, aber ich weiß nicht, wo mein Bruder ist.‹« Gerade »das ist das Wort Gottes für uns« und dies »nicht, um einen Teil der Geschichte oder der Bibeltheologie zu kennen«.
»Auch heute«, so der Papst, fragt die Stimme des Herrn nicht nur einen jeden von uns, sondern die ganze Menschheit: ›Wo ist dein Bruder? Wo ist deine Schwester?‹« Und unsere Antwort ist: »Ich weiß, wo jene sind, die bombardiert oder verjagt werden, doch sie sind keine Brüder, ich habe das Band zerstört.« Ebenso: »Wie viele Mächtige der Erde können das sagen: ›Mich interessiert dieses Gebiet, mich interessiert dieses kleine Stück Land, dieses andere, wenn die Bombe fällt und sie zweihundert Kinder tötet – das ist doch nicht meine Schuld: das ist die Schuld der Bombe; mich interessiert das Gebiet‹«.
Alles also, fügte Franziskus hinzu, »nimmt seinen Anfang bei jenem Gefühl, das dich dazu führt, dich loszutrennen, dem anderen zu sagen: ›Das ist irgendeiner, der ist so, aber er ist nicht mein Bruder‹«. Und »es endet mit dem Krieg, der tötet«. Doch, so der Papst, »du hast am Anfang getötet: das ist der Prozess des Blutes, und das Blut so vieler Menschen auf der Welt schreit heute zu Gott vom Ackerboden«. Und »alles ist miteinander verbunden: jenes Blut da – mag es auch nur ein kleiner Tropfen Blut sein –, das ich mit meinem Neid, mit meiner Eifersucht austreten lassen habe, als ich eine Geschwisterlichkeit zerstörte – es hat mit mir zu tun: es ist nicht die Zahl, die die Geschwisterlichkeit zerstört, es ist das, was aus dem Herzen eines jeden von uns kommt«.
»Der Herr«, so die abschließende Bitte des Papstes, helfe uns heute, dieses sein Wort zu wiederholen: ›Wo ist dein Bruder?‹«. Und »ein jeder von uns«, so der Rat zur Gewissenserforschung, soll »an all jene denken, von denen wir uns getrennt haben, an all jene, über die wir schlecht reden, wenn wir ihnen begegnen, oder die wir mit der Zunge vernichten«. Und »denken wir an all jene, die auf der Welt wie Dinge und nicht wie Geschwister behandelt werden, weil ein Stück Land wichtiger ist als das Band der Geschwisterlichkeit«.
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