PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Sitzende Seelen
Freitag, 13. Januar 2017
(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 4, 27. Januar 2017)
»In der Nachfolge Jesu muss man bereit sein, ein Risiko einzugehen«, ohne zu fürchten, »lächerlich zu erscheinen« und ohne »allzu wohlerzogen « zu sein; und darin seien »die Frauen besser als die Männer«. Der Papst forderte bei der Messe, die er am Freitag, 13. Januar, in der Kapelle des Hauses Santa Marta feierte, dazu auf, »im Leben nicht sitzen zu bleiben, nicht stillzustehen, um zu schauen«.
Bei seiner Meditation ließ sich Franziskus vom Tagesevangelium nach Markus (2,1-12) anregen, wo von der Ankunft Jesu in Kafarnaum die Rede ist: »Viele Menschen folgen Jesus, immer, es gab für niemanden Platz, bis vor der Tür.« Aber »man kann annehmen, dass diese Menschen Jesus aus Eigennutz folgen, um etwas zu erlangen; und vielleicht trifft das zu: ihre Gesundheit, ein Wort des Trostes«. Vielleicht, so setzte der Papst hinzu, waren ihre Absichten nicht ganz uneigennützig, waren sie nicht perfekt, das spielt immer mit, auch bei uns«. Im Übrigen, merkte Franziskus an, »wie oft folgen nicht auch wir Jesus mit bestimmten Absichten nach, für irgend etwas, weil es von Vorteil ist«. Tatsächlich »ist die Lauterkeit der Absichten eine Gnade, die man sich auf dem Weg aneignet: das Wichtige ist, Jesus nachzufolgen, Jesus hinterher zu gehen«. Das Evangelium, so erläuterte der Papst, berichte uns also von »diesen Leuten«, die »Jesus nachliefen, die gingen, ihn suchten, weil Jesus etwas an sich hatte, das sie anzog: Jene Vollmacht, mit der er sprach, die Dinge, die er sagte und wie er sie sagte, wie er sich verständlich machte«.
Außerdem habe Jesus »geheilt, und viele Menschen folgten ihm nach, um sich heilen zu lassen «. Aus diesem Grunde habe Jesus »sie manchmal getadelt, wenn er merkte, dass sie ihn aus sehr materiellem Eigeninteresse aufsuchten: so beispielsweise jenes Mal, als er den Menschen nach der wunderbaren Brotvermehrung sagte: ›Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid.‹ Und das sagte er, um den Unterschied aufzuzeigen«.
Es habe Gelegenheiten gegeben, so bekräftigte der Papst, bei denen »ihn die Menschen zum König machen wollten, weil sie dachten: ›Er ist der perfekte Politiker, und mit ihm wird es gut gehen, es wird keine Probleme geben.‹« Aber »die Menschen machten einen Fehler«, wenn sie so dachten. Und tatsächlich »ist Jesus weggegangen, er hat sich versteckt«. Andererseits sei aber auch wahr, so sagte der Papst, dass »Jesus immer gestattete, dass die Menschen ihm ein Stück weit auch mit diesen nicht ganz uneigennützigen, mit ihren unvollkommenen Absichten folgten, weil er wusste, dass wir alle Sünder sind«.
In Wirklichkeit, so bekräftigte Franziskus, »stellten nicht etwa jene das größte Problem dar, die Jesus nachfolgten, sondern die, die stehenblieben«, die Männer, »die herumstanden, die am Straßenrand standen, saßen, um zu gaffen«. Markus schreibe insofern in seinem Evangelium, dass »einige Schriftgelehrte dasaßen«, die Jesus »nicht nachfolgten«, sondern »vom Balkon aus zuschauten, in ihrem eigenen Leben gingen sie nicht einher, sondern sie ›verbrachten das Leben auf dem Balkon‹, sie riskierten niemals, sie beschränkten sich darauf, zu urteilen, sie waren die Reinen und machten sich nicht gemein«. Und auch ihre »Urteile waren heftig«. Markus berichte, dass sie, als sie der Menge ansichtig wurden, die Jesus nachfolgte, »bei sich dachten: ›Was für ein unwissendes Volk, diese abergläubischen Leute!‹« Aber »wie oft«, so gab der Papst zu, »kommt auch uns, wenn wir die Frömmigkeit der einfachen Leute sehen, dieser Klerikalismus in den Sinn, der der Kirche so schadet, und fällen wir ein Urteil über das einfache Volk«, indem wir denken, dass es »abergläubisch ist«.
Gewiss, so bekräftigte der Papst, »das Volk besteht aus Sündern, wie auch ich ein Sünder bin, wir alle sind es«. Aber die Menschen »suchen Jesus, sie suchen etwas, sie suchen das Heil«. Und »es gibt andere Menschen, die im Leben ›stillstehen‹: denken wir etwa an jenen Mann, der seit 38 Jahren am Rand des Wasserbeckens lag, unbeweglich, erbittert über sein Leben, ohne jede Hoffnung – ›nichts zu machen, es geht halt nicht‹ – und der seine Bitterkeit hätschelte und tätschelte«, so bekräftigte der Papst, der sich dabei auf die Heilung des Gelähmten am Teich Betesda bei Jerusalem bezieht, von der das Johannesevangelium (5,1-9) berichtet. Auch dieser Mann »ist einer im Stillstand, der Jesus nicht folgte und der keine Hoffnung hatte«.
»Das Volk« hingegen, »das Jesus nachfolgte, ging ein Risiko ein«, so erläuterte der Papst. Es »ging ein Risiko ein, um Jesus zu begegnen, um das zu finden, was es wollte«. Man denke nur etwa, so fuhr er fort, an die Geschichte, die Markus im heutigen Tagesevangelium erzähle: »Weil sie [den Gelähmten] aber wegen der vielen Leute nicht bis zu Jesus bringen konnten, hätten die Leute, die ihn brachten, »dort, wo Jesus war, das Dach ab[gedeckt], die Decke durchschl[a]gen und den Gelähmten auf seiner Tragbahre durch die Öffnung hinab[gelassen].« Auf diese Weise, so fügte Franziskus hinzu, »gingen diese Männer ein Risiko ein, als sie das Loch in die Decke schlugen: Sie riskierten, dass sie der Besitzer des Hauses anzeigte, dass er sie zum Richter schleppte und sie bezahlen mussten: Sie sind ein Risiko eingegangen, aber sie wollten zu Jesus vordringen«.
In diesem Zusammenhang führte der Papst auch wieder das Zeugnis der Frau an, die seit langem an Blutfluss litt, »die ein Risiko einging, als sie verstohlen den Saum von Jesu Gewand berühren wollte: Sie riskierte die öffentliche Schande, sie riskierte«, weil sie »gesund werden wollte, weil sie zu Jesus vordringen wollte«. Außerdem, so ergänzte Franziskus im Hinblick auf eine weitere biblische Geschichte, »denken wir an die kanaanäische Frau: Sie riskierte, als ›Hündin‹ bezeichnet zu werden«, aber sie habe zu Jesus gesagt: »Ja, du hast Recht, Herr! Aber gewähre meiner Tochter die Heilung!«
Und weiter, so fuhr er fort, »denken wir an die Sünderin im Hause des Simon: Sie trat verzweifelt dort ein, weinte, hatte die Haare durcheinander und trug das Parfüm in den Händen. Und Simon sah sie an und sagte: ›Unverschämte! Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist!‹« Auch diese Frau »riskierte, dass über sie geurteilt würde«. So wie auch »die Samariterin riskierte, als sie begann, mit Jesus zu diskutieren: Ehebrecherin, die sie war, riskierte sie und fand das Heil«. Kurz, alles Geschichten über Frauen. Vielleicht deshalb, weil, wie der Papst sagte, »die Frauen mehr riskieren als die Männer: Es ist wahr, sie sind tapferer, und das müssen wir zugeben«.
»Jesus nachfolgen ist nicht einfach«, so fuhr der Papst fort, »aber es ist schön und man riskiert dabei immer, und oft macht man sich dabei lächerlich«. Aber »man findet dabei etwas sehr Wichtiges: Deine Sünden sind dir vergeben«. Denn »hinter dieser Gnade, um die wir bitten – sei es die Gesundheit oder die Lösung eines Problems oder was auch immer – steht der Wunsch, an der Seele geheilt zu werden, Vergebung zu erlangen«. In Wirklichkeit, fuhr Franziskus fort, »wissen wir alle, dass wir Sünder sind, und deshalb folgen wir Jesus nach, um ihm zu begegnen«. Und wir riskierten und dächten: »Gehe ich ein Risiko ein, oder folge ich Jesus immer gemäß den Regeln einer Versicherung? Bis an diesen Punkt, mach dich nicht lächerlich, tu dies nicht, tu das nicht!« Aber Jesus folge man nicht »auf wohlerzogene Art und Weise« nach. Ja, wenn man das tue, dann »bleibt man sitzen« wie die Schriftgelehrten im Tagesevangelium, »die Urteile fällten«. Dagegen müsse man »Jesus folgen, weil wir etwas benötigen«, und auch persönlich etwas zu riskieren, »heißt, Jesus glaubensvoll nachzufolgen: das ist Glaube«.
Kurzum, man müsse sich »Jesus anvertrauen, Jesus trauen«: gerade »mit diesem Glauben an ihn«, so wiederholte Franziskus, der wieder zum Tagesevangelium zurückkehrte, »haben diese Männer das Loch in das Dach geschlagen, um die Bahre« des Gelähmten »vor Jesus herabzulassen, damit er ihn heilen konnte«.
Abschließend gab der Papst die Linien vor, nach denen dank einiger wesentlicher Fragen eine Gewissenserforschung vorgenommen werden könne: »Traue ich Jesus, vertraue ich mein Leben Jesus an? Folge ich dem Weg Jesu, selbst wenn ich mich dabei manchmal lächerlich mache? Oder sitze ich still, schaue zu, was die anderen machen und schaue dem Leben zu? Oder sitze ich mit einer ›herumsitzenden‹ Seele, wenn wir es einmal so nennen wollen, mit einer Seele, die sich aus Bitterkeit, aus Mangel an Hoffnung verschlossen hat?« Und, so schloss er, »jeder einzelne von uns kann sich heute diese Fragen stellen«.
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