PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Das ausgegrenzte Volk
Dienstag, 13. Dezember 2016
(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 1, 6. Januar 2017)
Der Klerikalismus in der Kirche ist ein schlimmes Übel, das sehr alte Wurzeln hat und dessen Opfer stets »das arme und demütige Volk« ist: Nicht umsonst sagt der Herr heute den »Intellektuellen der Religion« erneut, dass »Zöllner und Dirnen« eher in das Himmelreich gelangen als sie. Diesbezüglich forderte Papst Franziskus in der Predigt vom 13. Dezember, die er wie gewohnt am Morgen im Haus Santa Marta hielt, zu einer eingehenden Gewissenserforschung auf.
Auf das Tagesevangelium nach Matthäus (21,28-32) Bezug nehmend, unterstrich der Papst, dass »Jesus sich an die Hohenpriester und Ältesten wendet, das heißt an diejenigen, die Vollmacht haben, juristische Vollmacht, moralische Vollmacht, religiöse Vollmacht: alles«. Er spreche klare und deutliche Worte zu jenen, die generell die Entscheidungsbefugnis gehabt hätten: »Denken wir an Hannas und Kajaphas, die Jesus verurteilt haben, oder an jenes Wort von Kajaphas: ›Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt.‹ « Sie seien es gewesen, die über alles entschieden hätten, »auch dass Lazarus getötet werden sollte, weil er ein Zeugnis darstellte, das ihren Interessen widersprach«. Sie »waren Männer der Macht« und zu ihnen »ist Judas gegangen, um zu verhandeln: ›Was gebt ihr mir, wenn ich ihn euch ausliefere?‹« So »ist Jesus verkauft worden«. Und sie waren »die Hohenpriester, die führenden Persönlichkeiten«.
Franziskus erläuterte, dass sie »diese Vormachtstellung und auch die Tyrannei über das Volk durch die Instrumentalisierung des Gesetzes erreicht haben«, eines Gesetzes, »das sie ganz oft neu gemacht haben, bis es über 500 Gebote gab: Alles war geregelt, alles!« Es war ein »wissenschaftlich konstruiertes Gesetz, weil diese Menschen dazu in der Lage waren, denn sie hatten große Kenntnis. Sie führten sehr viele Nuancen ein.« Allerdings sei es ein »Gesetz ohne Gedächtnis « gewesen, denn »sie haben das erste Gebot vergessen, das Gott unserem Vater Abraham gegeben hat: ›Geh deinen Weg vor mir und sei rechtschaffen!‹« Sie dagegen »gingen keinen Weg, sondern blieben in ihren Überzeugungen auf der Stelle stehen, und sie waren auch nicht rechtschaffen«. Außerdem hätte es ihnen an Erinnerung gefehlt, »denn sie hatten die zehn Gebote des Mose vergessen«. Er »hatte ihnen die zehn Gebote gegeben, aber sie hatten mit ihrer Konstruktion eines intellektualistischen, ausgeklügelten, kasuistischen Gesetzes das Gesetz des Mose vergessen«. So sei »dieses Gesetz quasi ein goldenes Kalb geworden – noch ein goldenes Kalb –, das an die Stelle des Gesetzes des Mose getreten ist«.
Das gelte zum Beispiel für »das vierte Gebot: eines der schönsten, wenn nicht das schönste Gebot und das einzige, das eine Belohnung verspricht: Ehre deine Eltern, sorge für deine Eltern!« Aber sie seien so weit gegangen zu sagen: »Wenn die Eltern bedürftig sind und ich ein Gelübde abgelegt und mein Geld dem Tempel gegeben habe, dann tut es mir leid, liebe Eltern, aber seht zu, wie ihr zurechtkommt.« So hätten sie »mit dem von ihnen gemachten Gesetz das Gesetz des Herrn ausgelöscht: Es fehlt diese Erinnerung, die das Heute an den Ursprung, an die Offenbarung bindet.«
»Jesus war das Opfer dieser Leute«, so der Papst weiter. »Aber das alltägliche Opfer war das demütige und arme Volk, von dem heute der Prophet Zefanja spricht: ›Und ich lasse in deiner Mitte übrig ein demütiges und armes Volk, das seine Zuflucht sucht beim Namen des Herrn, und das wird der Rest von Israel sein‹ (3,1-2.9-13).« Das sei in etwa so, wie mit deutlicheren Worten zu sagen: »jene, die von euch ausgegrenzt werden, die Glauben an den Herrn haben und diesen Glauben leben«. Jesus sage ihnen, dass das Problem nicht darin bestehe, das Gesetz zu erfüllen, sondern darin, sich zu bekehren. Und genau das habe der im Matthäusevangelium erwähnte erste Sohn getan: Er sei vom Vater zur Arbeit in den Weinberg geschickt worden und habe zuerst nein gesagt. »Aber dann bereute er und ging doch.« Die Mächtigen dagegen hätten nicht gewusst, was es heißt, Reue zu empfinden und umzukehren, da »sie meinten, vollkommen zu sein: ›Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, auch wie dieser Zöllner, der dort betet.‹« Denn »sie waren eitel, stolz, hochmütig, und zudem war das Opfer das Volk«, das »unter diesen Ungerechtigkeiten litt, das sich von ihnen verurteilt, missbraucht fühlte: das demütige und arme Volk, das ausgegrenzt wurde«.
Franziskus fügte hinzu, dass dies die Verheißung sei: »Ein Volk, das umzukehren weiß, das sich als Sünder zu erkennen weiß, ist wie verworfen von diesen Leuten.« Dabei denke er gerne an Judas. Zweifellos »war Judas ein Verräter, er hat schlimm gesündigt, er hat schwer gesündigt«. Aber »dann sagt uns das Evangelium, dass er es bereut hat und das Geld zurückgeben wollte«. Wobei man ihn beruhigen wollte: »Du warst unser Partner, wir haben die Macht, dir alles zu vergeben. « Er weise das zurück und erhalte als Antwort, dass er sich selbst helfen solle, denn das sei nun sein Problem. So »haben sie ihn allein gelassen, ausgegrenzt: den armen Judas, ein Verräter, der bereute und von den Hirten nicht angenommen wurde, weil sie vergessen hatten, was ein Hirte ist«. Das »waren die Intellektuellen der Religion, jene, die die Macht hatten, in deren Händen die Katechese des Volkes lag, mit einer Moral, die ihrer Intelligenz entsprang und nicht der Offenbarung Gottes«.
Das »ist schlimm«, merkte der Papst an, »dass dieses demütige und arme Volk von diesen Leuten ausgegrenzt wird, die sich von ihm entfernt haben« und »auf sie eindroschen«. Sicherlich könne »jemand heute sagen: ›Gottlob ist das Vergangenheit!‹ Nein, meine Lieben, auch heute – auch heute! – gibt es das in der Kirche. Und das ist sehr schmerzlich.« Denn man könne »einen Geist des Klerikalismus in der Kirche« spüren: »Kleriker, die sich überlegen fühlen; Kleriker, die sich vom Volk entfernen; Kleriker, die immer sagen: ›Das wird so und so gemacht, und ihr sollt weggehen!‹« Das geschehe, wenn ein Kleriker »keine Zeit hat, die Leidenden, die Armen, die Kranken, die Gefangenen anzuhören: das Übel des Klerikalismus ist etwas sehr Schlimmes, es ist eine Neuauflage dieses alten Übels«. Aber »das Opfer ist dasselbe: das arme und einfache Volk, das auf den Herrn vertraut und ihn erwartet«.
Abschließend betonte Franziskus: »Der Vater wollte uns immer nahe sein, er hat seinen Sohn gesandt. Wir erwarten ihn. Wir warten in freudiger, jubelnder Erwartung, Aber der Sohn hat das Spiel dieser Leute nicht mitgemacht: Der Sohn ist auf die Kranken, die Armen, die Ausgegrenzten, die Sünder und – das ist ein Skandal – die Dirnen zugegangen.« Aber »auch heute sagt Jesus zu uns allen und zu denen, die vom Klerikalismus in Versuchung geführt werden: ›Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.‹«
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