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PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
 

Um die Zeit zu erkennen

Donnerstag, 17. November 2016
 

(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 49, 9. Dezember 2016)

 

Die Gnade, zu erkennen, wenn Jesus vorbeigeht, wenn »er an unsere Türe klopft«, die Gnade, »die Zeit zu erkennen, zu der wir heimgesucht worden sind, heimgesucht werden und künftig heimgesucht werden«. So lautet die Bitte, die Papst Franziskus am Ende der Predigt, die er bei der am Donnerstag, 17. November, in Santa Marta gefeierten Messe hielt, für jeden einzelnen Christen an den Herrn richtete. Eine Bitte, nicht ins Straucheln zu kommen in einem »Drama«, das sich in der Geschichte von den Anfängen bis in unsere Tage immer wieder wiederholt: das Drama, »die Liebe Gottes nicht zu erkennen«.

Die Predigt des Papstes ging aus von dem Abschnitt aus dem Tagesevangelium, wo Lukas (19,41-44) die Klage Jesu über die Stadt Jerusalem beschreibt. »Was spürt Jesus in seinem Herzen«, so fragte sich der Papst, »in diesem Augenblick seiner Klage? Weshalb beweint Jesus Jerusalem?« Und die Antwort komme einem in den Sinn, während man die Bibel durchblättere: »Jesus vollbringt einen Akt der Erinnerung und erinnert an die ganze Geschichte des Volkes, seines Volkes. Und er gedenkt der Ablehnung der Liebe des Vaters durch sein Volk«.

So »ziehen im Herzen Jesu, in der Erinnerung Jesu, in diesem Augenblick die Schritte der Propheten vorüber«. So wie Hosea – »Dann will ich selbst sie verlocken. Ich will sie in die Wüste hinausführen und sie umwerben« –, wo man »dem Enthusiasmus und das Verlangen Gottes nach seinem Volk«, seiner »Liebe«, begegne. Oder die Worte Jeremias: »Ich denke an deine Jugendtreue, an die Liebe deiner Brautzeit, wie du mir in der Wüste gefolgt bist. Aber du hast dich von mir entfernt.« Und weiter: »Was fanden eure Väter Unrechtes an mir, dass sie sich von mir entfernten?«, »Unheil über euch, dass eure Väter sich von mir entfernt haben…«

De Papst versuchte, sich den Fluss der Erinnerung vorzustellen, der Jesus in diesem Augenblick erfasste, und zitierte erneut den Propheten Hosea: »Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb… Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir weg.« Da habe sich »das Drama der Liebe Gottes« abgezeichnet »und das Weglaufen, die Untreue des Volkes«. Das, so erläuterte er, sei das gewesen, »was Jesus in seinem Herzen hatte«: einerseits die Erinnerung an eine »Liebesgeschichte «, ja sogar einer »›wahnsinnigen‹ Liebe Gottes für sein Volk, eine maßlose Liebe«, und auf der anderen Seite die »egoistische, entmutigte, verdorbene, götzendienerische« Antwort des Volkes. Und dann sei da noch ein anderer Aspekt, der dem Tagesevangelium zu entnehmen sei. In der Tat beschwere sich Jesus über Jerusalem, »weil es«, so sage er, »›die Zeit der Gnade nicht erkannt‹ hat, in der du von Gott, von den Patriarchen, von den Propheten besucht wurdest«. Der Papst suggerierte, dass in der Erinnerung Jesu auch »dieses hellsichtige Gleichnis« aufgetaucht sei, »in dem der Herr einen Angestellten ausschickt, um das Geld einzutreiben: sie verprügeln ihn, und dann bringen sie den nächsten um. Am Ende schickt er seinen Sohn, und was sagen da diese Leute? ›Aber das ist der Sohn! Der hat das Erbe…

Bringen wir ihn um! Bringen wir ihn um, und dann wird das Erbe unser sein!« Das sei die Erklärung dessen, was gemeint sei mit der »Stunde der Heimsuchung«, und zwar: »Jesus ist der Sohn, der kommt und nicht erkannt wird. Er wird abgewiesen!« In der Tat stehe im Johannesevangelium geschrieben: »Er ist zu ihnen gekommen und sie haben ihn nicht erkannt«, »das Licht ist gekommen und das Volk hat sich für die Finsternis entschieden«. Das also sei es, so erläuterte Franziskus, »was dem Herzen Jesu weh tut, diese Geschichte der Untreue, diese Geschichte, in der die Liebkosungen Gottes nicht erkannt werden, die Liebe Gottes, die Liebe eines in Liebe entbrannten Gottes«, der das Glück des Menschen wolle.

Jesus, so sagte der Papst, »sah in jenem Moment, was ihn als Sohn erwartete. Und er weinte, ›weil dieses Volk die Zeit der Gnade nicht erkannt hat, als es heimgesucht wurde«. An diesem Punkt wandte sich die Predigt des Papstes dem Alltagsleben jedes einzelnen Christen zu, weil, wie er sagte, »diese Tragödie sich nicht nur in der Geschichte ereignet hat und mit Jesus geendet hat. Es ist die Tragödie jedes einzelnen Tages«. Ein jeder von uns könne sich hinterfragen: »Bin ich imstande, die Zeit der Gnade zu erkennen, zu der ich heimgesucht wurde? Sucht Gott mich heim?« Um diese Vorstellung besser verständlich zu machen, verwies Franziskus auf die Liturgie des vergangenen Dienstags, wo von »drei Momenten von Gottes Heimsuchung« die Rede war: »um zu korrigieren; um mit uns ins Gespräch zu kommen; und um sich zu uns einzuladen«. Bei dieser Gelegenheit habe sich gezeigt, dass »Gott, dass Jesus vor uns steht, und uns, wenn er uns korrigieren will, sagt: ›Wache auf! Ändere dein Leben! So geht es nicht!‹ Und dann sagt er, als er mit uns sprechen will: ›Ich stehe an der Tür und klopfe an. Öffne mir!‹ So wie da, wo er zu Zachäus sagt: »Steig herab!‹, um »sich zu ihm nach Hause einladen zu lassen«.

Also könnten wir uns heute die Frage stellen: ›Wie ist es angesichts von Jesu Besuch um mein Herz bestellt?« Und wir könnten auch »eine Gewissenserforschung vornehmen: Passe ich auf, was in meinem Herzen vorgeht? Höre ich? Verstehe ich es, die Worte Jesu anzuhören, wenn er an meine Türe klopft, oder wenn er zu mir sagt: ›Wach auf! Korrigiere dich!‹, oder wenn er zu mir sagt: ›Komm herunter, ich will mit dir zu Abend essen‹?« Das sei eine wichtige Frage, weil, so mahnte der Papst, »ein jeder von uns in dieselbe Sünde verfallen kann wie das Volk Israel, in dieselbe Sünde wie Jerusalem: die Zeit der Gnade nicht erkennen, zu der wir heimgesucht worden sind«.

Angesichts vieler unserer Gewissheiten – »Aber ich bin mir meiner Dinge sicher. Ich gehe in die Messe, ich bin mir sicher« – müsse man sich daran erinnern, dass »der Herr uns jeden Tag heimsucht, dass er jeden Tag an unsere Tür klopft«. Und folglich »müssen wir lernen, das zuzugeben, um nicht in dieser so schmerzlichen Lage wiederzufinden«, die man den Worten des Propheten Hosea entnehmen könne: »Je mehr ich sie lieb gewann, je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir weg«. Daher wiederholte der Papst: »Nimmst du hierzu jeden Tag eine Gewissenserforschung vor? Hat mich der Herr heute heimgesucht? Habe ich eine Einladung vernommen, irgendeine Eingebung, ihm auch aus größerer Nähe zu folgen, ein Werk der Barmherzigkeit zu vollbringen, ein wenig mehr zu beten? «: kurz, um all diese Dinge durchzuführen, zu denen »uns der Herr jeden Tag von neuem auffordert, um uns zu begegnen?«

Die Lehre, die aus dieser Meditation gezogen werden könne, laute also, dass »Jesus nicht nur um Jerusalem weinte, sondern auch um uns alle«, und dass er »sein Leben gibt, weil wir seine Heimsuchung nicht erkennen«. In diesem Sinne erinnerte der Papst an »einen sehr starken Satz« des heiligen Augustinus: »›Ich habe Furcht vor Gott, vor Jesus, wenn er kommt!‹ – ›Aber warum fürchtest du dich?‹ – ›Ich fürchte, ihn nicht zu erkennen!‹ « Daher, so schloss der Papst, »wirst du, wenn du nicht auf dein Herz achtest, niemals wissen, ob Jesus dich heimsucht oder nicht«.

 



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