PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Halbe Leben
Donnerstag, 6. Oktober 2016
(aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 42, 21. Oktober 2016)
Leben wir »nur ein halbes Leben«? Ein Leben, das die Macht des Heiligen Geistes ignoriert? Oder sind wir imstande, uns für dieses »große Geschenk des Vaters« zu öffnen? So lauteten die Fragen, die Papst Franziskus in der Messe aufwarf, die er am Donnerstag, 6. Oktober, in Santa Marta feierte. Der rote Faden war dabei eine Meditation über den Heiligen Geist, der sich auf die Tagesliturgie stützte: den Absatz aus dem Brief an die Galater (3,1-5), wo man in den Worten des heiligen Paulus auf eine »theologische Diskussion« über den Heiligen Geist stoße, der man »nur schwer folgen kann«; und das Tagesevangelium nach Lukas (11,5-13), wo man auf das stoße, was der Papst als eine »Überraschung« definierte: Ein Gleichnis, in dem Jesus »über das Gebet spricht und an dessen Ende er sagt: ›Bittet, dann wird euch gegeben‹. Ihr werdet den Geist erhalten, die große Gabe des Heiligen Geistes«.
Eben daraus leitete sich der erste Hinweis ab, den Papst Franziskus gab. Er wollte hervorheben, dass der Heilige Geist »die Verheißung Jesu« beim Letzten Abendmahl sei und, wie es im Gleichnis heiße, »die große Gabe des Vaters«: »Der Vater im Himmel wird euch den Heiligen Geist geben.« Einen Geist, der »zugleich auch die Stärke der Kirche « sei. Es sei keineswegs ein Zufall, so merkte der Papst an, dass »als der Heilige Geist noch nicht gekommen war und Jesus in den Himmel aufgefahren war, sich alle am Ort des Abendmahls eingeschlossen hatten; sie hatten etwas Angst und wussten nicht, was sie tun sollten.« Dagegen »öffnet sich die Kirche im selben Augenblick, in dem der Geist kommt, sie geht hinaus, geht voran, und das Wort des Herrn dringt bis an die Enden der Welt vor«. Aus diesem Grunde, so schloss der Papst diesen ersten Gedankengang ab, sei der Heilige Geist »der Protagonist der Kirche«, er sei »der Hauptakteur dieses Vorangehens der Kirche «: ohne ihn herrsche »Verschlossenheit, Angst«, mit ihm hingegen »Mut«.
Im nächsten Teil der Meditation kam die an jeden einzelnen Christen gerichtete Herausforderung an die Reihe: »Wie ist es um unsere Einstellung dem Geist gegenüber bestellt, wie leben wir mit dem Geist?« Der Papst nannte drei mögliche Antworten. Die erste bezog sich auf das Verhalten, das den Galatern zu eigen war und das der heilige Paulus thematisierte. »Es ist wahr«, so sagte der Papst, »dass wir alle das Gesetz empfangen haben, aber nach dem Gesetz rechtfertigt uns der Herr durch die Gnade, durch seinen toten und auferstandenen Sohn«. Das bedeute, dass wir etwas empfangen hätten, »das mehr ist als das Gesetz«, nämlich Jesus, »der dem Gesetz Sinn verleiht«. Und doch hätten diese Galater, auch wenn sie an den gekreuzigten Jesus geglaubt hätten, »dann einige Theologen gehört, die ihnen sagten: ›Nein, aber nein! Gesetz ist Gesetz! Was dich rechtfertigt, ist das Gesetz!‹« Und so »ließen sie Jesus Christus links liegen«. Sie seien praktisch »allzu doktrinär« gewesen und »was bei ihnen am meisten zählte, war das Gesetz: man muss dies tun, man muss jenes tun…« Sie seien dieselbe Art von Menschen gewesen wie jene, die Jesus angefeindet hatten und die er als »Heuchler« bezeichnet hatte.
Was gehe in Menschen vor, die auf diese Art und Weise dächten? »Dieses Am-Gesetz-Kleben führt dazu, dass man den Heiligen Geist ignoriert « und lasse nicht zu, »dass die Kraft der Erlösung Christi durch den Heiligen Geist wirkt«. Nun, so führte der Papst aus, sei zwar wahr, dass »es die Gebote gibt und dass wir die Gebote befolgen sollen«, aber immer ausgehend »von der Gnade dieser Gabe, die uns der Vater gewährt hat«. Nur so könne man das Gesetz wirklich verstehen, und nicht dadurch, dass man »den Geist und den Sohn auf das Gesetz reduziert«.
Gerade das, so erläuterte der Papst, »war das Problem dieser Leute: sie ignorierten den Heiligen Geist und wussten nicht, wie sie weitermachen sollten. Sie waren eingekerkert, eingekerkert in ihren Vorschriften: man muss dies tun, man muss das tun«. Und das sei dieselbe Versuchung, der jeder Christ erliegen könne: der Versuchung, »den Heiligen Geist zu ignorieren«.
Und dann, so fuhr Franziskus fort, gebe es ein zweites Verhaltensmuster, und zwar jenes, das den Heiligen Geist »betrübt«. In diesem Sinne »sagt Paulus zu den Ephesern: ›Bitte, beleidigt nicht den Heiligen Geist!‹« Aber wann geschähe das? Dann, so bekräftigte der Papst, wenn wir »nicht zulassen, dass er uns inspiriert, dass er uns im christlichen Leben voranbringt; wenn wir sagen: ›Ja, gewiss, der Heilige Geist verleiht meinem Leben einen Sinn‹, aber nicht zulassen, dass er uns sagt – und zwar nicht mit der Theologie des Gesetzes, sondern mit der Freiheit des Geistes –, was wir tun sollen«. Dann passiere es, dass »wir nicht wissen, mit Hilfe welcher Eingebung wir die Dinge tun sollen und lau werden«. Letztendlich sei gerade das »die christliche Mittelmäßigkeit «, zu der es dann komme, wenn man den Heiligen Geist daran hindere, »in uns das große Werk« zu verwirklichen.
Das erste Verhaltensmuster sei also das, »den Heiligen Geist zu ignorieren«. Das sei die Verhaltensweise der Schriftgelehrten, die, wie der Papst betonte, »mit Ideen verblenden, denn die Ideologien verblenden«. Tatsächlich frage der heilige Paulus: »Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet?« Aber das sei eine Abmahnung, die auch all denen gelte, die denen auf den Leim gingen, »die mit Ideologien predigen« und durchblicken ließen, dass sie alles durchschaut hätten. Dagegen, so erläuterte Franziskus, sei es, wenn wahr sei, dass Gottes Offenbarung »eindeutig« sei, gleichfalls wahr, dass »wir sie auf dem Weg finden müssen«; und »die, die glauben, die ganze Wahrheit zu besitzen, sind Ignoranten«. Zweitens laufe man Gefahr, den Heiligen Geist zu betrüben. Schließlich gäbe es dann noch »das dritte Verhaltensmuster«, und zwar jenes, »sich dem Heiligen Geist gegenüber zu öffnen und zuzulassen, dass uns der Geist voranbringt«.
Gerade das sei den Aposteln widerfahren, die am Pfingsttag »ihre Angst abgelegt haben und sich für den Heiligen Geist geöffnet haben«. Genau das werde auch vom Ruf vor dem Evangelium zum Tage betont: »Herr, öffne uns das Herz, dass wir auf die Worte deines Sohnes hören.« Der Papst erläuterte: Um die Worte Jesu zu verstehen, um sie anzunehmen muss man sich der Kraft des Heiligen Geistes öffnen. Und wenn ein Mann, eine Frau sich für den Heiligen Geist öffnet, dann ist das wie ein Segelboot, dass sich vom Wind vorantreiben lässt und weiterfährt, immer weiter und weiter und nicht mehr anhält.«
Um diese Wirklichkeit voll leben zu können, müsse man beten, so regte Franziskus an. Tatsächlich sei dies genau das, was auch in dem biblischen Gleichnis stehe, wo der Mann beharrlich fordere: »Gib mir Brot. Mach die Tür auf, gib mir Brot.« Und Jesus erinnere: »Wenn nun schon ihr euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird euch der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben, die große Gabe, diese große, gute Sache«.
Der Papst beendete daraufhin seine Reflexionen mit der Anregung, dass jeder sich einige Fragen stellen solle: »Ignoriere ich den Heiligen Geist?«; »Ist mein Leben nur ein halbes Leben, ein laues Leben, das den Heiligen Geist betrübt und mir nicht die Kraft lässt, weiterzugehen?«, oder »ist es ein beständiges Gebet darum, sich dem Heiligen Geist zu öffnen, damit er mich mit der Freude des Evangeliums voranbringen und mir die Lehre Jesu verständlich machen kann, die wahre Lehre, die Lehre, die nicht verblendet, die Lehre, die uns nicht einfältig werden lässt, sondern die wahre Lehre«, die »den Weg des Heils« lehrt?«
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