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PAPST FRANZISKUS

FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"

 

Der mundtot gemachte Geist

Montag, 30. Mai 2016

 

aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 23, 10. Juni 2016

 

»Prophetie, Erinnerung und Hoffnung« sind die drei Eigenschaften, die einen Menschen, ein Volk, die Kirche frei machen und verhindern, dass sie in einem »geschlossenen Normensystem« enden, das den Heiligen Geist mundtot macht. Daran erinnerte Papst Franziskus im Verlauf der Frühmesse, die er am Montag, 30. Mai, in der Kapelle des Hauses Santa Marta feierte.

»Es ist offenkundig, wen Jesus mit diesem Gleichnis ansprechen will: die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Ältesten des Volks«, merkte der Papst unter Verweis auf das Tagesevangelium (Mk 12,1-12) gleich eingangs an. Es geschehe also ihretwegen, dass der Herr sich »des Bildes vom Weinberg« bediene, das »in der Bibel ein Symbol für das Gottesvolk, ein Symbol für die Kirche und auch ein Symbol unserer Seele ist«. Auf diese Weise, so erläuterte Franziskus, »pflegt der Herr den Weinberg, er zäunt ihn ein, hebt eine Grube für die Kelter aus und baut einen Turm«.

Gerade an dieser Arbeit erkenne man »die ganze Liebe und Zärtlichkeit, die Gott bei der Schaffung seines Volkes aufbringt: er hat das immer mit sehr viel Liebe und sehr viel Zärtlichkeit getan«. Und »er erinnert dieses Volk immer an die Gelegenheiten, bei denen es ihm treu war, als es ihm in die Wüste folgte, als es sein Antlitz suchte«. Aber »dann verkehrten sich die Vorzeichen und das Volk bemächtigte sich dieser Gottesgabe« und rief: »Wir sind wir, wir sind frei!« Dieses Volk »denkt nicht nach, es erinnert sich nicht mehr daran, dass es die Hände, das Herz Gottes gewesen waren, die es erschaffen hatten, und so wird es zu einem Volk ohne Erinnerung, ein Volk ohne prophetische Gabe, ein Volk ohne Hoffnung«.

Infolgedessen richte sich Jesus »mit diesem Gleichnis an die Führer dieses Volkes: ein Volk ohne Erinnerung, das sich nicht mehr an die Gabe, an das Geschenk erinnert; und das sich selbst das Verdienst für das zuschreibt, was es ist: wir können das!« In der Bibel sei oft von »Asketen, von Propheten« die Rede, so bekräftigte der Papst, und »Jesus selbst betont, wie wichtig die Erinnerung ist: ein Volk ohne Erinnerung ist kein Volk, es vergisst seine Ursprünge, es vergisst seine Geschichte«.

Mose wiederhole diese Auffassung im Buch Deuteronomium mehrfach: »Erinnert euch, erinnere dich!« Tatsächlich sei dieses Buch »das Buch der Erinnerung des Volkes, des Volkes Israel; es ist das Erinnerungsbuch der Kirche, es ist aber auch das Buch unserer persönlichen Erinnerung«. Es sei gerade »diese deuteronomische Dimension des Lebens, des Lebens eines Volkes oder des Lebens eines Menschen, die dabei hilft, immer wieder zu den Ursprüngen zurückzukehren und nicht vom Weg abzukommen«. Jene Menschen hingegen, die Jesus mit diesem Gleichnis habe ansprechen wollen, »hatten ihre Erinnerung verloren: Sie hatten die Erinnerung an die Gabe, an das Geschenk vergessen, das Gott ihnen geschenkt hatte«.

»Wenn es erst einmal seine Erinnerung verloren hat, dann ist es ein Volk, das nunmehr außerstande ist, den Propheten Platz zu machen«, so fuhr Franziskus fort. Tatsächlich sage ihnen Jesus selbst, »dass sie die Propheten getötet haben, weil die Propheten lästig fallen, weil die Propheten immer die Dinge sagen, die wir nicht hören wollen«. Und so »klagt Daniel in Babylon: ›Wir haben nicht auf die Propheten gehört!‹« Worte, in denen die Wirklichkeit »eines Volkes ohne Propheten« enthalten sei, die ihnen »den Weg weisen und sie erinnern: ein Prophet ist ein Mann, der die Erinnerung aufgreift und dabei hilft weiterzugehen«.

Gerade deshalb »sagt Jesus zu den Führern des Volks: ›Euch ist die Erinnerung abhanden gekommen und ihr habt keine Propheten. Ja, als die Propheten kamen, habt ihr sie getötet!‹« Im Übrigen sei offenkundig gewesen, wie sich die Führer des Volks verhalten hätten: »Wir brauchen keine Propheten, wir sind wir!« »Ohne Erinnerung und ohne Propheten« aber, warnte der Papst, »werden sie zu einem Volk ohne Hoffnung, ein Volk ohne Horizonte, ein in sich selbst geschlossenes Volk, das sich nicht für Gottes Verheißungen öffne, das nicht auf Gottes Verheißungen wartet«. Also »ein Volk ohne Erinnerung, ohne Prophezeiung und ohne Hoffnung: das ist das Volk, zu dem die Hohenpriester, die Schriftgelehrten, die Ältesten das Volk Israel gemacht haben«.

Und »wo bleibt der Glaube?«, so fragte sich Papst Franziskus. »In der Menge«, so erwiderte er und hob hervor, dass in der Bibel stehe: »Daraufhin hätten sie Jesus gern verhaften lassen; aber sie fürchteten die Menge.« Tatsächlich hätten diese Menschen »die Wahrheit erkannt, und trotz all ihrer Sünden erinnerten sie sich, sie waren offen für die Prophezeiung und suchten nach Hoffnung«. Ein Beispiel hierfür käme von »den zwei betagten Menschen, Simeon und Hanna, Menschen, die Erinnerung, prophetische Sicht und Hoffnung hatten«.

»Die Führer des Volks« hingegen hätten ihre Philosophie dadurch legitimiert, dass sie sich mit »Anwälten, mit Schriftgelehrten« umgeben hätten, »die ihnen ein geschlossenes Rechtssystem erdenken. Ich glaube«, so kommentierte der Papst, »dass dieses nahezu 600 Gebote enthielt«. Und ihre Denkart sei so »geschlossen, so selbstsicher « gewesen, dass sie gedacht hätten, dass »diejenigen erlöst werden, die sich genau danach richten; die anderen interessieren uns nicht, die Erinnerung erinnert uns nicht«. Was nun die Prophezeiung anbelangt, so »ist es besser, dass keine Propheten kommen«. Und »die Hoffnung? Nun, jeder werde sehen«. Das »ist das System, durch das sie die Dinge rechtfertigen: die Schriftgelehrten, die Theologen, die immer den Weg der Kasuistik einschlagen und die Freiheit des Heiligen Geistes leugnen; sie erkennen die Gottesgabe nicht an, die Gabe des Geistes, und sie machen den Geist mundtot, weil sie keine Prophetie in der Hoffnung zulassen«.

Und gerade »das ist das religiöse System, von dem Jesus spricht«. Ein System der »verderblichen Begierde, die in der Welt herrscht«, wie es in der Ersten Lesung aus dem Zweiten Petrusbrief (1,2-7) heiße. Selbst Jesus selbst »ist versucht, die Erinnerung an seinen Auftrag zu verlieren, der prophetischen Gabe ihren Platz vorzuenthalten und statt der Hoffnung die Sicherheit zu wählen«. In diesem Zusammenhang erinnerte der Papst an »die drei Versuchungen in der Wüste: ›Tu ein Wunder und zeige deine Macht!‹; ›Stürz dich vom Tempel herab, so dass alle an dich glauben!‹; ›Bete mich an!‹«

»Jesus warf diesen Leuten, weil er aus eigener Anschauung die Versuchung« des »geschlossenen Systems« kannte, vor, durch »die halbe Welt zu reisen, um einen Proselyten zu machen« und um ihn zu »verknechten«. Und so »macht dieses gut organisierte Volk, diese so organisierte Kirche andere zu Sklaven«. Insofern »kann man verstehen, wie Paulus reagiert, wenn er über die Knechtschaft unter dem Gesetz und über die Freiheit spricht, die aus der Gnade kommt«. Denn »ein Volk ist dann frei, eine Kirche ist dann frei, wenn sie Erinnerung haben, wenn sie den Propheten Platz einräumen, wenn sie nicht ihre Hoffnung verlieren«.

»Der Herr möge uns diese Lehre auch für unser Leben lehren«, so wünschte sich Franziskus abschließend und regte dazu an, sich selbst einer gründlichen Gewissenserforschung zu unterziehen: »Erinnere ich mich der Wunder, die der Herr in meinem Leben getan hat? Erinnere ich mich der Gaben des Herrn? Bin ich dazu imstande, den Propheten mein Herz zu öffnen, dem also, was mir sagt: ›das ist nicht in Ordnung, du musst diese andere Richtung einschlagen, geh voran, geh das Risiko ein‹, wie es die Propheten zu tun pflegen? Bin ich dafür offen, oder habe ich Angst und verschanze mich lieber im Käfig des Gesetzes?« Und schließlich: »Hoffe ich auf die Verheißungen Gottes, wie es unser Urvater Abraham getan hat, der nur deshalb seine Heimat verlassen hat, ohne zu wissen, wohin ihn der Weg führte, weil er seine Hoffnung in Gott setzte?«

 



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