PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Die Aufgabe, Löcher zu stopfen
Freitag, 12. September 2014
aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 39, 26. September 2014
Die Christen riskieren, »disqualifiziert« zu werden, wie der heilige Paulus rügt, wenn sie meinen, brüderliche Zurechtweisungen vornehmen zu können, ohne dabei Liebe, Wahrheit und Demut walten zu lassen und dadurch der Heuchelei und dem Gerede Raum gewähren. In Wirklichkeit erfordere dieser Dienst am Nächsten in erster Linie, dass man sich eingestehe, selbst Sünder zu sein, und sich nicht zum Richter aufzuwerten. Daran erinnerte der Papst im Lauf der Frühmesse, die er am 12. September in der Kapelle des Hauses Santa Marta feierte.
Franziskus machte gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass »die Liturgie uns in diesen Tagen über vielerlei Verhaltensweisen der Christen hat nachdenken lassen: den Anderen zu geben, großzügig zu sein, den Anderen zu dienen, zu vergeben, barmherzig zu sein«. Dies »sind Verhaltensweisen «, so erläuterte er, »die dazu beitragen, die Kirche wachsen zu lassen«. Vor allem aber »lässt der Herr uns heute wieder auf eine dieser Verhaltensweisen zurückkommen, über die er bereits gesprochen hat, und zwar die brüderliche Zurechtweisung«. Die zentrale Frage laute: »Wenn ein Bruder oder eine Schwester unserer Gemeinschaft Fehler begehen, auf welche Art und Weise soll ich sie dann darauf hinweisen?« »Der Herr«, so fuhr der Papst fort, habe uns gleichfalls in der Liturgie »einige Ratschläge erteilt, wie man« diesen anderen »korrigieren« solle. Aber »heute greife ich all das erneut auf und sage: Man muss diese Person auf den rechten Weg hinweisen, aber als Sehender und nicht als Blinder.« Gerade daran erinnere das Lukasevangelium (6,39-42): »Kann ein Blinder einen Blinden führen?«
Kurzum, wenn man jemanden korrigieren will, sei es erforderlich, selbst gut sehen zu können. Und einige Verhaltensregeln zu befolgen, die der Herr selbst angeregt habe. »Vor allem«, so bekräftigte der Papst, »besteht der Rat im Hinblick auf die brüderliche Zurechtweisung – wir haben ihn neulich gehört – darin, den Bruder, der einen Fehler begangen hat, beiseite zu nehmen und mit ihm zu sprechen«, wobei man zu ihm sagen solle: »Aber, Bruder, ich glaube, dass du da nicht gut gehandelt hast!« Und »ihn beiseite nehmen« bedeute eben, »ihn liebevoll zurechtzuweisen«. Denn »man kann einen Menschen nicht lieblos und ohne Nächstenliebe zurechtweisen«. Das wäre so, »als nähme man einen chirurgischen Eingriff ohne Anästhesie vor«, was zur Folge habe, dass der Kranke an den Schmerzen sterben würde. Und »die Nächstenliebe ist wie eine Anästhesie, die dabei hilft, die Behandlung anzunehmen und die Zurechtweisung zu akzeptieren«. Daher sei dies der allererste Schritt: »den Bruder beiseite nehmen, mit Sanftmut, voller Liebe, und mit ihm sprechen«.
Der Papst, der auch die zahlreichen Ordensfrauen ansprach, die bei der Messe in Santa Marta anwesend war, forderte also dazu auf, stets »voll Nächstenliebe« zu sprechen, ohne Verletzungen zuzufügen, »wenn man in unseren Gemeinschaften, in den Pfarrgemeinden, in den Institutionen, in den Ordensgemeinschaften etwas zu einer Schwester oder zu einem Bruder sagen muss«. Zusammen mit der Nächstenliebe müsse man auch »die Wahrheit sagen« und niemals »etwas sagen, das nicht der Wahrheit entspricht«. In Wirklichkeit, so merkte er an, »kommt es in unseren Gemeinschaften oft vor, dass man Dinge über eine andere Person sagt, die unwahr sind: es sind Verleumdungen«. Oder »wenn sie wahr sind«, dann »beraubt man« doch »diese Person ihres guten Rufes«.
Aus dieser Perspektive könne man sich folgendermaßen an den Bruder wenden: »Das, was ich zu dir sage, zu dir, der du das wirklich getan hast. Es ist kein Gerede, das mir zu Ohren gekommen ist.« Denn »Redereien verletzen, sie sind Ohrfeigen, die dem guten Ruf einer Person zugefügt werden, es sind Ohrfeigen, die dem Herzen eines Menschen zugefügt werden«. Daher bedürfe es stets »der Wahrheit«, auch wenn es manchmal »nicht schön ist, sie zu hören«. In jedem Fall sei es »einfacher« die Wahrheit »zu akzeptieren, wenn sie im Geist der Nächstenliebe und der Liebe vorgebracht wird«. Aus diesem Grunde müsse man »die Wahrheit im Geiste der Nächstenliebe« sagen: »Das ist die Art und Weise, auf die man über die Fehler der Anderen sprechen soll.«
Über die dritte Regel, die Demut, spreche Jesus in der Schriftlesung aus dem Lukasevangelium: den Anderen zurechtweisen »ohne Heuchelei, also voller Demut«. Es sei gut, wenn man sich selbst vor Augen halte, so empfahl der Bischof von Rom, dass »du, wenn du dort einen kleinen Fehler korrigieren sollst, daran denkst, dass du selbst viele noch viel größere Fehler hast«. Der Herr sage dies auf überaus wirksame Weise: Ziehe zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge, und dann wirst du gut genug sehen, um den Splitter aus dem Auge des Anderen zu ziehen. Nur dann »wirst du nicht blind sein« und »gut genug sehen«, um deinem Bruder wirklich helfen zu können. Dazu bedürfe es folglich »der Demut«, um anzuerkennen, dass »ich ein noch größerer Sünder bin als er, ein größerer Sünder als sie«. Anschließend »muss ich ihm oder ihr dabei helfen, diesen Fehler zu korrigieren«. »Wenn ich die Zurechtweisung des Bruders nicht im Geiste der Liebe vornehme, wenn ich sie nicht im Geist der Wahrheit und nicht im Geist der Demut vornehme, dann werde ich blind«, so ermahnte der Papst. Und wenn ich nicht sehen kann, so fragte er sich, wie kann ich es dann anstellen, »einen anderen Blinden zu heilen?« Kurz, »die brüderliche Zurechtweisung ist ein Akt, der dazu dient, den Leib der Kirche zu heilen«. Franziskus beschrieb diesen mit einem höchst wirksamen Bild: es sei so, als stopfe man »ein Loch im Gewebe der Kirche«. Allerdings müsse man dabei »mit höchstem Feingefühl vorgehen, wie die Mütter und Großmütter, wenn sie stopfen«, und gerade dies sei der Stil, in dem man »die brüderliche Zurechtweisung vornehmen soll«.
Andererseits, so warnte er, »fügst du, wenn du nicht dazu imstande bist, die Zurechtweisung des Bruders im Geist der Liebe, der Nächstenliebe, der Wahrheit und der Demut vorzunehmen, dem Herzen dieser Person eine Kränkung, eine Zerstörung zu: du redest zu viel, sagst etwas, das verletzt, und so wirst du zu einem blinden Heuchler, wie Jesus sagt.« In der Tat stehe im Lukasevangelium zu lesen: »Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge!« Auch wenn man eingestehen müsse, selbst »ein noch größerer Sünder zu sein als der andere«, so seien wir als Brüder doch dazu verpflichtet, »dabei zu helfen, einander zu korrigieren«.
Der Papst erteilte auch einen praktischen Rat. Es gäbe »ein Zeichen«, so sagte er, »das uns vielleicht zu Hilfe kommen kann: Wenn man etwas sieht, das nicht in Ordnung ist, und spürt, dass man das korrigieren muss«, dabei aber »ein gewisses Vergnügen« empfinde, »dies zu tun«, dann sei der Augenblick gekommen, »vorsichtig zu sein, denn derartiges kommt nicht vom Herrn«. In der Tat »gibt es beim Herrn stets das Kreuz, die Schwierigkeit, etwas Gutes zu tun«. Und vom Herrn kämen auch immer Liebe und Sanftmut.
Diese Gedanken über die brüderliche Zurechtweisung, so fuhr der Papst fort, rede uns ins Gewissen, »uns nicht zum Richter zu machen«. Auch wenn, wie er warnte, »wir Christen der Versuchung ausgesetzt sind, uns wie Schriftgelehrte aufzuführen«, ja uns geradezu »außerhalb von Sünde und Gnade zu sehen, als wären wir Engel«.
Dies sei eine Versuchung, über die auch der heilige Paulus im 1. Korintherbrief spreche (9,16-19.22-27): »damit ich nicht anderen predige und selbst verworfen werde«. Der Apostel erinnere uns also daran, dass »ein Christ, der in der Gemeinschaft die Dinge – auch die brüderliche Zurechtweisung – nicht im Geist der Liebe, der Wahrheit und der Demut tut, verworfen, disqualifiziert wird«. Denn »er hat es nicht fertig gebracht, ein reifer Christ zu werden«.
Franziskus schloss mit der Bitte an den Herrn, »dass er uns in dem gleichermaßen schönen und schmerzlichen brüderlichen Dienst beistehen möge, den Brüdern und Schwestern zu helfen, besser zu werden«, indem wir uns bemühten, »dies stets im Geist der Liebe, der Wahrheit und der Demut zu tun«.
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