PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Klein und heilig
Montag, 8. September 2014
aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 38, 19. September 2014
Gott ist der »Herr der Geschichte« und auch der »Geduld«. Er »geht an unserer Seite«: Deshalb ist der Christ aufgerufen, vor den großen Dingen nicht zu erschrecken und auch den kleinen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Mahnung richtete Papst Franziskus unter Verwendung eines Zitats des heiligen Thomas von Aquin am Morgen des 8. September an die Gläubigen, die an der heiligen Messe in der Kapelle des Hauses Santa Marta teilnahmen.
Zunächst bemerkte der Papst, dass die Gefahr bestehe, »bei der Lektüre der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis« zu glauben, »dass Gott ein Zauberer sei«, der mit dem unvermeidlichen »Zauberstab« alles tun könne. Aber »so war es nicht«. Denn, so erklärte er, »Gott hat die Dinge geschaffen – alle – und sie ihren inneren Gesetzen folgen lassen, die er allen gegeben hat, damit sie sich entwickeln, damit sie zur Vollendung gelangen sollten«. So habe »der Herr den Dingen des Universums Autonomie verliehen«, aber nicht »Unabhängigkeit«. Und so sei »die Schöpfung Jahrhunderte lang weitergegangen, bis hin zur Weise, wie sie heute ist«. Gerade weil Gott »kein Zauberer, sondern Schöpfer« sei.
Was dagegen den Menschen betreffe, lägen die Dinge anders. »Als es am sechsten Tag des Schöpfungsberichtes zur Erschaffung des Menschen kommt, gibt Gott eine andere Art von Autonomie, ein wenig anders, aber nicht unabhängig: eine Autonomie, die Freiheit ist.« Und er sagt dem Menschen, »dass er in der Geschichte vorangehen soll: er überträgt ihm die Verantwortung für die Schöpfung, auch damit er über die Schöpfung herrscht, damit er sie weiterbringt und sie so zur Fülle der Zeit gelangt«. Die »Fülle der Zeit«, merkte der Papst an, »ist das, was Gott im Herzen trug: die Ankunft seines Sohnes«.
In diesem Zusammenhang verwies der Papst auf die Tageslesung aus dem Brief des heiligen Paulus an die Römer (8,28-30). »Gott«, so erläuterte er mit den Worten des Apostels, »hat uns alle im voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben. Und das ist der Weg der Menschheit, es ist der Weg des Menschen: Gott wollte, dass wir wie sein Sohn sind, und dass sein Sohn so sei wie wir.«
»So ist die Geschichte vorangegangen«, wie auch dem Abschnitt aus dem Matthäusevangelium (1,1-16.18-23) zu entnehmen sei, in dem der Stammbaum Jesu vorgestellt wird: »Dieser war der Vater von diesem; jener war der Vater von jenem; dieser wiederum war der Vater von jenem anderen… Aber das ist die Geschichte«, so bekräftigte der Papst. Und »in diesem Verzeichnis«, so merkte er an, »kommen Heilige vor und auch Sünder. Aber die Geschichte geht weiter, weil Gott wollte, dass die Menschen frei seien.« Dennoch »hat Gott den Menschen an jenem Tag, als dieser seine Freiheit schlecht genutzt hat, aus dem Paradies vertrieben«. Die Bibel berichte uns, dass »er ihm eine Verheißung gegeben hat und dass der Mensch das Paradies mit einer Hoffnung verlassen hat: ein Sünder, aber voller Hoffnung«. »Durch dieses Auflisten der Geschichte«, so fuhr der Papst fort, »ziehen sich wie ein roter Faden die Probleme, die Kriege, die Feindschaften, die Sünden, aber auch die Hoffnung. Sie gehen ihren Weg nicht allein: Gott geht an ihrer Seite. Denn Gott hat eine Entscheidung getroffen: er hat sich für die Zeit entschieden, nicht für den Augenblick. « Er »ist der Gott der Zeit, er ist der Gott der Geschichte, er ist der Gott, der mit seinen Kindern geht«, bis »die Zeit erfüllt ist«: bis sein Sohn Mensch wird.
Daher enthalte der Bericht, der sich durch ständige Wiederholungen auszeichne, »diesen Reichtum: Gott ist an der Seite der Gerechten und auch der Sünder«. Und wenn ein Christ zugebe, dass er ein Sünder sei, dann wisse er, dass Gott auch mit ihm den Weg gehe, dass er »alle begleitet bis zur endgültigen Begegnung des Menschen mit Ihm«. Im Übrigen »endet das Evangelium, das diese Geschichte seit Jahrhunderten schreibt, in etwas ganz Kleinem, in einem kleinen Ort, mit dieser Geschichte von Josef und Maria: Sie erwartete ein Kind durch das Wirken des Heiligen Geistes.« Also »ist der Gott der großen Geschichte auch in der kleinen Geschichte gegenwärtig, auch dort, weil er jeden Einzelnen begleiten will«.
In der Summa theologiae des heiligen Thomas, so erinnerte der Papst, »steht ein wunderschöner Satz, der hier genau passt. Er lautet folgendermaßen: ›Nicht vor den großen Dingen zu erschrecken und auch den kleinen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, das ist göttlich‹«. Denn Gott »ist in den großen Dingen, aber auch in den ganz kleinen Dingen, in unseren winzig kleinen Dingen«. Im Übrigen, so fügte er hinzu, »ist der Herr auch der Herr der Geduld«: der Geduld, »die er mit all diesen Generationen, mit all diesen Menschen gehabt hat, die ihre von Gnade und Sünde geprägte Geschichte gelebt haben«. Gott, so bekräftigte er, »ist geduldig, Gott geht mit uns, weil er will, dass wir alle soweit kommen, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben«. Und »seit jenem Augenblick, als er uns die Freiheit in der Schöpfung geschenkt hat – nicht die Unabhängigkeit! –, geht er weiter mit uns, bis heute«.
Dann richtete Franziskus einen Gedanken an Maria, am Festtag der Geburt der Gottesmutter. »Heute«, so sagte er, »sind wir im Vorzimmer dieser Geschichte: der Geburt der Muttergottes.« Und so sollten wir den Herrn »im Gebet darum bitten, uns die Einheit zu schenken, um gemeinsam zu gehen, und um Frieden im Herzen. Das ist die heutige Gnade: So gelangen wir hierhin, denn unser Gott ist geduldig, er liebt uns, er begleitet uns.«
Heute, so fuhr der Papst fort, könnten wir also »auf die Muttergottes schauen, die so klein, heilig, ohne Sünde und rein ist, die dazu auserkoren wurde, die Mutter Gottes zu werden, und wir können auch auf diese Geschichte zurückblicken, die hinter uns liegt, eine so lange, jahrhundertealte Geschichte«. Daraus leiteten sich einige grundlegende Fragen ab: »Wie gehe ich in meiner Geschichte voran? Lasse ich es zu, dass Gott mit mir geht? Lasse ich zu, dass er mit mir geht, oder will ich alleine gehen? Lasse ich zu, dass er mich liebkost, dass er mir hilft, mir vergibt, mich voranbringt, um zur Begegnung mit Jesus Christus zu gelangen?« Denn gerade das, so betonte er, »wird das Ende unseres Weges sein: unsere Begegnung mit dem Herrn«.
Daraus, so fuhr der Papst fort, leite sich eine Frage ab, die zu beantworten »uns heute gut tun wird«: »Lasse ich es zu, dass Gott Geduld mit mir hat?« Nur dann, »wenn wir diese große Geschichte betrachten, und auch diesen kleinen Ort«, so versicherte er abschließend, »können wir den Herrn preisen und demütig darum bitten, dass er uns den Frieden schenke, jenen Frieden des Herzens, den er allein uns schenken kann und den er uns nur dann schenkt, wenn wir ihn an unserer Seite gehen lassen«.
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