PAPST FRANZISKUS
FRÜHMESSE IM VATIKANISCHEN GÄSTEHAUS "DOMUS SANCTAE MARTHAE"
Niemand darf richten
Montag, 23. Juni 2014
aus: L'Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 27, 4. Juli 2014
Wer richtet, setzt sich an die Stelle Gottes und geht so im Leben einer sicheren Niederlage entgegen, weil es ihm mit derselben Münze vergolten wird. Und er wird in der Täuschung leben und den »Splitter« im Auge des Bruders mit dem »Balken« verwechseln, der ihn am Sehen hindert. Der Papst rief in der Frühmesse, die er am Montag, dem 23. Juni, in der Kapelle des Hauses Santa Marta feierte, dazu auf, die Anderen zu verteidigen und nicht über sie zu richten.
Der Heilige Vater verwies eingangs darauf, dass im Abschnitt aus dem Evangelium (Mt 7,1-5) Jesus »uns zu überzeugen versucht, nicht zu richten«: ein Gebot, das er »oft wiederholt«. In der Tat »führt uns das Richten über die Anderen zur Heuchelei«. Und Jesus bezeichne diejenigen, die richten, als »Heuchler«. Denn, so erläuterte der Papst, »der Mensch, der richtet, macht einen Fehler, täuscht sich und erleidet eine Niederlage«.
Wer richtet, »macht immer einen Fehler«. Und er macht einen Fehler, so bekräftigte er, »weil er sich an die Stelle Gottes setzt, der der einzige Richter ist: Er setzt sich genau an diese Stelle, und nimmt die falsche Stelle ein!« Er glaube praktisch, er hätte »die Macht, über alles zu richten: über die Menschen, das Leben, alles«. Und »mit der Fähigkeit zu richten« maße er sich »auch über die Fähigkeit zu verurteilen« an. Das Evangelium berichte, dass »das Richten über andere Menschen eine der Haltungen jener Schriftgelehrten war, die Jesus als ›Heuchler‹ bezeichnete«. Es handle sich um Menschen, die »über alles richteten«. Das »Schlimmste« aber sei, dass sie durch diese Verhaltensweise »die Stelle Gottes einnehmen, der der einzige Richter ist«.
Und »Gott nimmt sich zum Richten Zeit, er wartet «. Diese Menschen hingegen »tun es sofort: Daher macht der, der richtet, einen Fehler, weil er sich einfach an eine Stelle setzt, die ihm nicht zusteht«. Aber, so führte der Papst aus, »er macht nicht nur einen Fehler, sondern er täuscht sich auch«. Und »er ist so besessen von dem, über den er richten will, von diesem Menschen –wirklich sehr besessen –, dass ihm dieser Splitter den Schlaf raubt«. Und er sage immer wieder: »Ich will dir doch diesen Splitter entfernen!« – ohne dabei »den Balken« zu bemerken, den er in seinem eigenen Auge habe. In diesem Sinne »täuscht« er sich und »glaubt, dass der Balken jener Splitter sei«. Wer richtet, ist also jemand, der »die Wirklichkeit durcheinander bringt«. Er erliegt einer Täuschung.
Nicht nur das: Für den Papst wird der, der richtet, »eine Niederlage erleben« und kein gutes Ende nehmen, »denn er selbst wird nach demselben Maß gerichtet werden«, wie Jesus im Evangelium nach Matthäus sagt. Also »setzt der hochmütige und anmaßende Richter, der die falsche Stelle einnimmt, weil er sich an die Stelle Gottes setzt, auf eine Niederlage«. Und was ist diese Niederlage? »Dass er selbst nach demselben Maß gerichtet wird, nach dem er die anderen richtet«, betonte der Bischof von Rom. Denn »der einzige Richter ist Gott, und diejenigen, denen Gott die Macht verleiht, dies zu tun. Die anderen haben kein Recht zu richten: Daher kommt die Täuschung, daher kommt die Niederlage«.
Außerdem, so der Papst weiter, »reicht auch die Niederlage darüber hinaus, denn wer richtet, klagt immer an«. Im »Urteil über die Anderen – das Beispiel, das der Herr anführt, ist ›der Splitter in deinem Auge‹ –, ist stets eine Anklage enthalten «. Das sei das genaue Gegenteil dessen, was »Jesus vor dem Vater tut«. Denn Jesus »klagt niemals an«, sondern verteidigt sogar. Er »ist der erste Beistand. Dann sendet er uns den zweiten, den Heiligen Geist«. Jesus sei »der Verteidiger: er steht vor dem Vater, um uns vor den Anschuldigungen zu verteidigen«.
Aber wenn es einen Verteidiger gibt, gibt es auch einen Ankläger. »In der Bibel«, erläuterte der Papst, »heißt der Ankläger Teufel, Satan«. Jesus »wird am Ende der Welt richten, aber in der Zwischenzeit hält er Fürsprache, verteidigt er«. Johannes, so der Papst, »sagt das sehr schön in seinem Evangelium: Sündigt bitte nicht, aber wenn jemand sündigt, dann denke er daran, dass wir einen Beistand haben, der uns vor dem Vater verteidigt«.
»Wenn wir den Weg Jesu gehen wollen«, betonte der Papst, »dürfen wir also nicht Ankläger, sondern müssen vielmehr Verteidiger der anderen vor dem Vater sein«. Daher forderte der Papst dazu auf, jene zu verteidigen, die »etwas Schlimmes« erleiden: man solle ohne Umschweife »hingehen, um zu beten und ihn vor dem Vater zu verteidigen, wie es Jesus tut. Bete für ihn«. Vor allem aber, so wiederholte der Papst, »richte nicht, denn wenn du es tust, wirst du, wenn du etwas Schlimmes tust, auch gerichtet!« An diese Wahrheit, empfahl er, solle man »im Alltag« denken, »wenn wir über andere richten, schlecht über andere reden wollen, was auch eine Form des Richtens ist«.
Der Papst betonte also: »Wer richtet, sitzt an der falschen Stelle, er täuscht sich und erleidet eine Niederlage«. Und indem er dies tut, »ahmt er Jesus nicht nach, der stets vor dem Vater verteidigt: er ist Beistand und Fürsprecher«. Wer richtet, ist vielmehr »ein Nachahmer des Fürsten dieser Welt, der den Menschen immer nachstellt, um sie vor dem Vater anzuklagen«. Abschließend betete Papst Franziskus zum Herrn, dass er »uns die Gnade gewähre, Jesus nachzuahmen, der für uns und die anderen Fürsprecher, Verteidiger und Beistand ist« – und »nicht den anderen nachzuahmen, der uns am Ende zerstören wird«.
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