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BOTSCHAFT AN DAS VOLK GOTTES
DER XII. ORDENTLICHEN VOLLVERSAMMLUNG
DER BISCHOFSSYNODE

 


Frieden sei mit den Brüdern und Schwestern,

„Liebe und Glaube von Gott, dem Vater, und Jesus Christus,
dem Herrn. Gnade und unvergängliches Leben sei mit allen, die Jesus Christus, unseren Herrn lieben“. Mit diesem innigen und leidenschaftlichen Gruß schloss der hl. Paulus seinen Brief an die Epheser (6, 23-24). Mit eben diesen Worten beginnen wir Synodenväter, die wir zur XII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode in Rom unter der Leitung des Heiligen Vaters Benedikt XVI. versammelt sind unsere Botschaft, die an den unermesslichen Horizont all derer gerichtet ist, die in den verschiedenen Regionen der Welt Christus als Jünger nachfolgen und fortfahren, ihn mit unerschütterlicher Liebe zu lieben.
Ihnen stellen wir erneut die Stimme und das Licht des Wort Gottes vor und wiederholen den alten Aufruf: „Das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten“ (Dtn 30, 14). Und Gott selbst wird zu jedem sagen: „Menschensohn, nimm alle meine Worte, die ich dir sage, mit deinem Herzen auf, und höre mit deinen Ohren“ (Ez 3, 10). Allen schlagen wir jetzt eine geistige Reise vor, die sich in drei Etappen vollzieht und von der Ewigkeit und Unendlichkeit Gottes in unsere Wohnstätten und entlang der Straßen unserer Städte führen wird.

 

I.

DIE STIMME DES WORTES:
DIE OFFENBARUNG


1. „Der Herr sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Ihr hörtet den Donner der Worte. Eine Gestalt habt ihr nicht gesehen. Ihr habt nur den Donner gehört“ (Dt 4, 12). Und Moses, der spricht, spielt auf die Erfahrung an, die Israel in der herben Einsamkeit der Wüste Sinai gemacht hat. Der Herr hatte sich nicht als Bild oder Darstellung oder als Statue gezeigt, ähnlich wie das goldene Kalb, sondern als “Donner der Worte”. Es ist eine Stimme, die zu Beginn der Schöpfung in Erscheinung getreten war, als sie das Schweigen des Nichts zerriss: „Im Anfang ... sprach Gott: Es werde Licht! Und es wurde Licht ... Im Anfang war das Wort ... und das Wort war Gott ... Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“ (Gen 1, 1.3; Joh 1, 1.3).
Die Schöpfung entsteht nicht aus einem Kampf zwischen Gottheiten - wie die antike mesopotamische Mythologie lehrte - sondern aus einem Wort, das das Nichts besiegt und das Sein erschafft. Der Psalmist singt: „Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes ... Denn der Herr sprach, und sogleich geschah es; er gebot, und alles war da“ (Ps 33, 6.9). Und der hl. Paulus wird wiederholen: „Gott ist es, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4, 17). So gibt es eine erste “kosmische” Offenbarung, die die Schöpfung einem vor der gesamten Menschheit aufgeschlagenen Buch ähnlich erscheinen lässt, die in ihm eine Botschaft des Schöpfers lesen kann: „Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament. Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut es der anderen kund, ohne Worte und ohne Reden, unhörbar bleibt ihre Stimme. Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus, ihre Kunde bis zu den Enden der Erde“ (Ps 19, 2-5).

2. Das göttliche Wort steht jedoch auch am Ursprung der menschlichen Geschichte. Der Mann und die Frau, die „das Bild Gottes und ihm ähnlich“ sind (Gen 1, 27) und die also in sich das Abbild Gottes tragen, können mit ihrem Schöpfer in einen Dialog eintreten oder sich von ihm entfernen und ihn durch die Sünde zurückweisen. Das Wort Gottes erlöst und richtet also, dringt ein in den Lauf der Geschichte mit ihrem Netz von Tätigkeiten und Geschehnissen: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage ...habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land ...“ (Ex 3, 7-8). Es gibt folglich eine göttliche Präsenz in den menschlichen Angelegenheiten, die durch das Eingreifen des Herrn in die Geschichte in einen größeren Heilsplan eingefügt werden, damit „alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2, 4).

3. Das machtvolle göttliche Wort, schöpferisch und erlösend, steht folglich am Beginn des Seins und der Geschichte, der Schöpfung und der Erlösung. Der Herr kommt der Menschheit entgegen und verkündet: „Ich habe gesprochen, und ich führe es aus“ (Ez 37, 14). Es gibt jedoch einen weiteren Schritt, den die göttliche Stimme verfolgt: es ist der des geschriebenen Wortes, die Graphé oder die Graphai, die Heiligen Schriften, wie es im Neuen Testament heißt. Schon Mose war vom Gipfel des Sinai herab gestiegen und hielt „die zwei Tafeln der Bundesurkunde in der Hand, die Tafeln, die auf beiden Seiten beschrieben waren. Auf der einen wie auf der anderen Seite waren sie beschrieben. Die Tafeln hatte Gott selbst gemacht, und die Schrift, die auf den Tafeln eingegraben war, war Gottes Schrift“ (Ex 32, 15-16). Und eben dieser Moses wird Israel auferlegen, diese “Tafeln der Bundesurkunde” aufzuheben und abzuschreiben. „Und auf die Steine sollst du in schöner Schrift alle Worte dieser Weisung schreiben“ (Dt 27, 8).
Die Heiligen Schriften sind das „Zeugnis“des göttlichen Wortes in schriftlicher Form, sie sind kanonisches, historisches und literarisches Denkmal, das das Ereignis der schöpferischen und erlösenden Offenbarung bezeugt. Das Wort Gottes geht also der Bibel voraus und über die Bibel hinaus, die auch „von Gott inspiriert“ ist und das wirkende göttliche Wort enthält (vgl. 2 Tim 3, 16). Und aus diesem Grund steht im Mittelpunkt unseres Glaubens nicht nur ein Buch, sondern eine Geschichte der Erlösung und, wie wir sehen werden, eine Person, Jesus Christus, Gottes Wort, das Fleisch, Mensch, Geschichte geworden ist. Eben gerade weil der Horizont des Wortes Gottes umfassend ist und über die Bibel hinaus geht, ist die beständige Gegenwart des Heiligen Geistes notwendig, der denjenigen, der die Bibel liest, „in die ganze Wahrheit führt“ (Joh 16, 13). Es ist dies die große Tradition, wirksame Gegenwart des „Geistes der Wahrheit“ in der Kirche, Hüterin der Heiligen Schriften, authentisch interpretiert durch das Lehramt der Kirche, zum Verständnis, zur Kommunikation und zur Bezeugung des Wortes Gottes befähigt. Der hl. Paulus selbst wird, wenn er das erste christliche Credo verkündet, anerkennen, dass er das „überliefert“, was auch er von der Tradition „empfangen“ hat (1 Kor 15, 3-5).



II.

DAS ANTLITZ DES WORTES:
JESUS CHRISTUS


4. Im griechischen Original sind es nur drei grundlegende Worte: Lógos sarx eghéneto, „der Logos/das Wort wird Fleisch“. Und dies ist nicht nur der Höhepunkt jenes poetischen und theologischen Juwels, den der Prolog des Johannesevangeliums darstellt (1, 14), sondern es ist das Herz des christlichen Glaubens. Das ewige und göttliche Wort tritt ein in Raum und Zeit und nimmt ein Antlitz und eine menschliche Identität an, und so ist es wirklich möglich, sich ihm zu nähern und ihn direkt zu fragen, wie es jene Gruppe von Griechen tat, die sich in Jerusalem aufhielten: „Wir wollen Jesus sehen“ (Joh 12, 20-21). Die Worte ohne ein Antlitz sind nicht vollkommen, weil sie die Begegnung nicht vollständig sein lassen, wie Ijob am Ende seiner dramatischen Suche sagte: „Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut“ (42, 5).
Christus ist „das Wort, das bei Gott ist und Gott ist“, und „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ (Kol 1, 15); aber er ist auch Jesus von Nazareth, der durch die Straßen einer entlegenen Provinz des römischen Reiches geht, der eine lokale Sprache spricht, die die Züge eines Volkes, des jüdischen, und seiner Kultur trägt. Der reale Jesus Christus ist folglich verletzlicher und sterblicher Leib, er ist Geschichte und menschliche Natur, aber auch Ruhm, Göttlichkeit, Geheimnis: Derjenige, der uns Gott offenbart hat, den niemand je gesehen hat (vgl. Joh 1, 18). Der Sohn Gottes bleibt Sohn Gottes, auch als Leichnam, der im Grab liegt, und die Auferstehung ist dessen lebendiger und wirksamer Beweis.

5. Die christliche Tradition hat oft das göttliche Wort, das Fleisch wird, dem Wort, das Buch wird, gegenübergestellt. Das tritt schon im Credo hervor, wenn bekannt wird, dass der Sohn Gottes „Fleisch angenommen hat durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria“, aber man auch den Glauben an jenen „Heiligen Geist, der durch die Propheten gesprochen hat“, bekennt. Das Zweite Vatikanum nimmt diese alte Tradition auf, nach der „der Leib des Sohnes die Schrift ist, die uns überliefert ist“ - wie der hl. Ambrosius sagt (In Lucam VI, 33) - und erklärt mit deutlichen Worten: „Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist“ (DV 13).
Die Bibel ist in der Tat auch „Fleisch“, „Buchstabe“, sie drückt sich aus in einzelnen Sprachen, in literarischen und historischen Formen, in Begriffen, die gebunden sind an eine antike Kultur, sie bewahrt Erinnerungen an oft tragische Ereignisse, ihre Seiten sind nicht selten mit Blut und Gewalt befleckt, in ihrem Innern hallt das Lachen des Menschen wider und fließen die Tränen, so wie sich das Gebet der Unglücklichen und der Jubel der Verliebten erhebt. Wegen dieser „fleischlichen“ Dimension erfordert sie eine historische und literarische Analyse, die durch die verschiedenen von Bibelexegese angebotenen Methoden und Annäherungsweisen verwirklicht wird. Jeder Leser der Heiligen Schriften, auch der einfachste, muss eine angemessene Kenntnis des heiligen Textes haben und sich klar machen, dass das Wort in konkrete Wörter gekleidet ist, denen es sich ausliefert und anpasst, um für die Menschheit hörbar und verständlich zu sein.
Dies ist eine unausweichliche Aufgabe: Wenn man sie ausschließt, kann man in den Fundamentalismus abgleiten, der praktisch die Fleischwerdung des göttlichen Wortes in der Geschichte verneint, nicht anerkennt, dass jenes Wort sich in der Bibel ausdrückt im Sinne einer menschlichen Sprache, die entziffert, studiert und verstanden werden muss, und ignoriert, dass die göttliche Inspiration nicht die historische Identität und die der Persönlichkeit der menschlichen Autoren ausgelöscht hat. Die Bibel ist jedoch auch das ewige und göttliche Wort und erfordert deshalb ein anderes Verständnis, das vom Heiligen Geist gegeben wird, der die transzendente Dimension des Gotteswortes enthüllt, das in den menschlichen Worten gegenwärtig ist.

6. Hier sind also die „lebendige Überlieferung der Gesamtkirche“ (DV 12) und der Glaube notwendig, um im einzigen und vollen Sinn die Heiligen Schriften zu verstehen. Wenn man bei dem bloßen “Buchstaben” stehen bleibt, bleibt die Bibel nur ein feierliches Dokument der Vergangenheit, ein edles ethisches und kulturelles Zeugnis. Wenn man jedoch die Inkarnation ausschließt, kann man in das Missverständnis des Fundamentalismus verfallen oder einen vagen Spiritualismus oder Psychologismus. Die exegetische Kenntnis muss folglich unauflösbar mit der spirituellen und theologischen Tradition verbunden sein, damit die göttlich-menschliche Einheit Jesu Christi und der Heiligen Schriften nicht zerbrochen wird.
In dieser wieder gewonnen Harmonie wird das Antlitz Christi in seiner Gänze wieder erstrahlen und uns helfen, eine andere Einheit zu entdecken, jene tiefe und innere Einheit der Heiligen Schiften, ihr Wesen, 73 Bücher, aber zusammengefasst zu einem einzigen „Kanon“, zu einem einzigen Dialog zwischen Gott und der Menschheit, zu einem einzigen Heilsplan. „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn“ (Hebr 1, 1-2). Christus wirft auf diese Weise im Nachhinein sein Licht auf den gesamten Weg der Heilsgeschichte und enthüllt deren Folgerichtigkeit, Bedeutung und Richtung.
Er ist das Siegel, „das Alpha und das Omega“ (Apg 1, 8) eines Dialoges zwischen Gott und seinen Geschöpfen durch die Zeit hindurch und in der Bibel bezeugt. Im Licht dieser endgültigen Besiegelung erhalten die Worte des Mose und der Propheten ihren „vollen Sinn“, wie Jesus selbst an jenem frühlingshaften Nachmittag angedeutet hatte, während er von Jerusalem nach Emmaus unterwegs war und mit Kleopas und seinem Freund sprach, und „ihnen darlegte, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (Lk 24, 27).
Eben gerade weil im Zentrum der Offenbarung das göttliche Wort steht, das ein Antlitz hat, ist das letzte Ziel der Kenntnis der Bibel „nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt“ (Deus caritas est, 1).



III.

DAS HAUS DES WORTES:
DIE KIRCHE


Wie sich die göttliche Weisheit im Alten Testament ihr von sieben Säulen gestütztes Haus (vgl. Spr 9, 1) in der Stadt der Männer und Frauen errichtet hatte, so hat auch das Wort Gottes sein Haus im Neuen Testament: Es ist die Kirche, die ihr Vorbild in der Urgemeinde von Jerusalem hat, die auf Petrus und die Apostel gegründet ist (LG 13) und heute durch die Bischöfe, die um den Nachfolger Petri versammelt sind, führt die Aufgabe weiter, Hüterin, Verkündigerin und Interpretin des Wortes zu sein. In der Apostelgeschichte (2, 42) zeichnet Lukas ihre Architektur nach, die auf vier ideellen Säulen ruht: „Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“.

7. Vor allem ist da die apostolische didaché, das heißt die Verkündigung des Wortes Gottes. Der Apostel Paulus ermahnt uns in der Tat, dass „der Glaube in der Botschaft gründet, die Botschaft im Wort Christi“ (Röm 10, 17). Aus der Kirche erhebt sich die Stimme des Boten, der allen das kérygma vorlegt oder die erste und grundlegende Verkündigung, die Jesus selbst am Beginn seines öffentlichen Wirkens ausgesprochen hatte: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1, 15). Die Apostel verkünden den Anbruch des Reiches Gottes und damit den entscheidenden göttlichen Eingriff in die menschliche Geschichte, indem sie Tod und Auferstehung Christi verkünden: „Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen“ (Apg 4, 12). Der Christ gibt von dieser seiner Hoffnung „bescheiden, ehrfürchtig und mit reinem Gewissen“ Zeugnis; er flieht nicht vor dem Sturm der Zurückweisung oder Verfolgung, auch wenn er vielleicht von ihm überrollt wird, denn er ist sich bewusst, dass „es besser ist, für gute Taten zu leiden als für böse“ (vgl. 1 Petr 3, 16-17).
In der Kirche erklingt dann die Katechese: sie ist dazu bestimmt, im Christen „das Geheimnis Christi im Licht der Heiligen Schrift“ zu vertiefen, „damit der ganze Mensch hiervon geprägt wird“ (Johannes Paul II., Catechesi tradendae, 20). Aber der Höhepunkt der Verkündigung ist die Predigt, die auch heute noch für viele Christen der wichtigste Moment der Begegnung mit dem Wort Gottes ist. Wenn er predigt, sollte der Priester auch Prophet sein. Denn er muss nicht nur mit Autorität und in klar verständlicher, einprägsamer und gehaltvoller Sprache die „Wundertaten Gottes in der Geschichte des Heils“ (SC, 35) verkünden - zunächst in einer deutlichen und lebendigen Darbietung des von der Liturgie vorgesehenen biblischen Textes -, sondern er muss sie auch im Hinblick auf die von den Zuhörern erlebten Zeiten und Situationen aktualisieren und in ihrem Herzen die Frage der Bekehrung und des Engagements in ihrem Leben aufkommen lassen: „Was sollen wir tun?“ (Apg 2, 37).
Verkündigung, Katechese und Homilie setzen also Lesen und Verstehen, Erklären und Auslegen, Einbeziehung von Herz und Verstand voraus. In der Predigt vollzieht sich so eine zweifache Bewegung. Mit der ersten geht man zurück zur Wurzel der heiligen Texte, der Ereignisse, der Heilsgeschichte bewirkenden Worte, um ihre Bedeutung und Botschaft zu verstehen. Mit der zweiten Bewegung kehrt man wieder in die Gegenwart zurück, dem gelebten Heute dessen, der hört und liest, immer im Licht Christi, der wie eine leuchtende Spur die Schriften eint. Es ist das, was Jesus selbst - wie schon erwähnt - in Begleitung zweier seiner Jünger auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus getan hat. Und dasselbe wird der Diakon Philippus auf dem Weg von Jerusalem nach Gaza tun, als er mit dem äthiopischen Hofbeamten jenen emblematischen Dialog beginnt: „Verstehst du auch, was du liest? ... Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“ (Apg 8, 30-31). Und das Ziel wird die vollkommene Begegnung mit Christus im Sakrament sein. So stellt sich die zweite Säule dar, die die Kirche trägt, das Haus des göttlichen Wortes.

8. Es ist das Brechen des Brotes. Die Szene von Emmaus (Lk 24, 13-35) ist erneut beispielhaft und stellt das dar, was jeden Tag in unseren Kirchen geschieht: Der Predigt Jesu über Mose und die Propheten folgt das Brechen des eucharistischen Brotes am Tisch. Das ist der Augenblick eines vertrauten Dialogs Gottes mit seinem Volk, es ist der Akt des im Blut Christi besiegelten Neuen Bundes (Lk 22, 20), es ist das höchste Werk des göttlichen Wortes, das sich in seinem geopferten Leib als Speise darbietet und die Quelle und der Höhepunkt des Lebens und der Mission der Kirche. Der Evangelienbericht vom Letzten Abendmahl, Gedächtnis des Opfers Christi, wird Ereignis und Sakrament, wenn er unter Anrufung des Heiligen Geistes in der Eucharistiefeier verkündet wird. Deshalb hat das Zweite Vatikanische Konzil in einem Abschnitt von eindringlicher Intensität erklärt: „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht“ (DV 21). Deshalb sollte man in den Mittelpunkt des christlichen Lebens „Wortgottesdienst und Eucharistiefeier“ stellen, die „so eng miteinander verbunden sind, dass sie einen einzigen Kultakt ausmachen“ (SC 56).

9. Die dritte Säule des geistlichen Gebäudes der Kirche, dem Haus des Wortes, besteht aus den Gebeten, die - wie der heilige Paulus erinnerte - durchflochten sind von „Psalmen, Hymnen und Liedern“ (Kol 3, 16). Eine privilegierte Stelle nimmt sicherlich das Stundengebet ein, das Gebet der Kirche schlechthin, dazu bestimmt, den Tagen und Zeiten des christlichen Jahres seinen Rhythmus zu verleihen und besonders durch den Psalter dem Gläubigen die tägliche geistliche Nahrung anzubieten. Daneben und neben den gemeinschaftlichen Wort-Gottes-Feiern hat die Tradition die Praxis der Lectio divina eingeführt, die betende Lesung im Heiligen Geist, die fähig ist, dem Gläubigen den Schatz des Wortes Gottes zu eröffnen, aber auch Begegnung mit Christus, dem lebendigen göttlichen Wort, zu bewirken.
Sie beginnt mit der Lektüre (lectio) des Textes, die eine Frage der echten Kenntnis seines wirklichen Inhalts hervorruft: Was sagt der biblische Text an sich? Es folgt die Meditation (meditatio), bei der die Frage lautet: Was sagt uns der biblische Text? So gelangt man zum Gebet (oratio), das eine weitere Frage voraussetzt: Was sagen wir zum Herrn als Antwort auf sein Wort? Und sie schließt mit der Kontemplation (contemplatio), während der wir als Geschenk Gottes die Realität mit seinem Blick betrachten und uns fragen: Um welche Bekehrung des Geistes, des Herzens und des Lebens bittet der Herr uns?
Vor dem betenden Leser des Wortes Gottes steht im Geist die Gestalt Marias, der Mutter des Herrn, die „alles, was geschehen war in ihrem Herzen bewahrte und darüber nachdachte“ (Lk 2, 19; vgl. 2, 51), das heißt - wie es das griechische Original ausdrückt - sie fand den tiefen Kern, welcher scheinbar unverbundene Ereignisse, Taten und Dinge im großen Plan Gottes verbindet. Vor den Augen des Gläubigen, der die Bibel liest, könnte auch Maria, die Schwester Martas stehen, die sich im Hören auf sein Wort zu Füßen des Herrn niederlässt und nicht zulässt, dass die äußere Unruhe die Seele vollkommen gefangen nimmt und so auch den für das “Bessere” freien Raum erfüllt, der uns nicht genommen werden darf (vgl. Lk 10, 38-42).

10. Schließlich stehen wir vor der letzten Säule, die die Kirche, das Haus des Wortes, stützt: die koinonía, die brüderliche Gemeinschaft, ein anderes Wort für agápe, das heißt für die christliche Liebe. Denn es ist so, wie Jesus uns sagt: Um seine Brüder und Schwestern zu werden, muss man unter denen sein, „die das Wort Gottes hören und danach handeln“ (Lk 8, 21). Echtes Hören heißt zu gehorchen und zu handeln, es heißt im Leben Gerechtigkeit und Liebe walten zu lassen, in der eigenen Existenz und in der Gesellschaft ein Zeugnis zu geben, das mit dem Ruf der Propheten übereinstimmt, der beständig Wort Gottes und Leben, Glaube und Gerechtigkeit, Kult und sozialen Einsatz vereint hat. Und dies hat auch Jesus mehrmals wiederholt, angefangen von der berühmten Ermahnung der Bergpredigt: „Nicht jeder, der zu mir sagt, Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt 7, 21). In diesem Satz scheint das von Jesaja widergegebene Gotteswort anzuklingen: „Dieses Volk nähert sich mir nur mit Worten und ehrt mich bloß mit den Lippen, sein Herz hält es aber fern von mir“ (29, 13). Diese Mahnungen gelten auch den Kirchen, wenn sie dem gehorsamen Hören des Wortes Gottes nicht treu sind.
Dieses muss also schon im Antlitz und den Händen des Gläubigen sichtbar und ablesbar sein, wie der heilige Gregor der Große bemerkt, der im heiligen Benedikt und in den anderen großen Gottesmännern Zeugen der Gemeinschaft mit Gott und mit den Brüdern sah, das lebendige Wort Gottes. Der Gerechte und Treue “erklärt” nicht nur die Schriften, sonder er “entfaltet” sie vor allen als eine lebendige und gelebte Realität. Deshalb gilt: viva lectio, vita bonorum, das Leben der Gerechten ist eine lebendige Lektüre des göttlichen Wortes. Schon der heilige Johannes Chrysostomus weist darauf hin, dass die Apostel vom Berg in Galiläa, wo sie dem Auferstandenen begegnet waren, im Gegensatz zu Mose ohne beschriebene Steintafeln hinabstiegen: ihr eigenes Leben sollte von diesem Augenblick an lebendiges Evangelium werden.
Im Haus des göttlichen Wortes begegnen wir auch Brüdern und Schwestern anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, die trotz der noch existierenden Trennungen die Verehrung und die Liebe zum Wort Gottes mit uns gemeinsam haben, Ursprung und Quelle einer ersten und wirklichen, wenn auch nicht vollen Einheit. Dieses Band muss stets durch gemeinsame Bibelübersetzungen gestärkt werden sowie durch die Verbreitung des heiligen Textes, das ökumenische Bibelgebet, den exegetischen Dialog, das Studium und die Diskussion der verschiedenen Interpretationen der Heiligen Schrift, den Austausch der in den verschiedenen geistlichen Traditionen enthaltenen Werte, die Verkündigung und das gemeinsame Zeugnis des Wortes Gottes in einer säkularisierten Welt.

 

IV.

DIE WEGE DES WORTES:
DIE MISSION


„Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort“ (Jes 2, 3). Das personifizierte Wort Gottes “tritt heraus” aus seinem Haus, dem Tempel, und begibt sich auf die Wege der Welt, um der großen Pilgerschaft zu begegnen, die die Völker der Erde unternommen haben in der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden. Denn es gibt auch in der modernen säkularisierten Stadt, auf ihren Straßen und Plätzen - wo Unglaube und Gleichgültigkeit vorzuherrschen scheinen, wo das Böse über das Gute zu siegen scheint und so der Eindruck eines Sieges von Babylon über Jerusalem entsteht - eine verborgene Sehnsucht, eine aufkeimende Hoffnung, ein erwartungsvolles Beben. So wie im Buch des Propheten Amos zu lesen ist: „Seht, es kommen Tage, da schicke ich den Hunger ins Land, nicht den Hunger nach Brot, nicht Durst nach Wasser, sondern nach einem Wort des Herrn“ (8, 11). Auf diesen Hunger will der Evangelisierungsauftrag der Kirche antworten.
Auch die zögernden Apostel ruft der Auferstandene auf, die schützenden Grenzen ihres Horizonts zu verlassen: „Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern ... und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (Mt 28, 19-20). Die Bibel ist überall durchsetzt mit Aufrufen, “nicht zu schweigen”, “kraftvoll zu rufen” und “das Wort gelegen oder ungelegen zu verkünden”, Wächter zu sein, die das Schweigen der Gleichgültigkeit zerreißen. Die sich vor uns eröffnenden Wege sind nicht nur die, die der heilige Paulus oder die ersten Verkünder des Evangeliums und nach ihnen alle Missionare gegangen sind, die bis zu Völkern in weit entfernten Ländern vorgedrungen sind.

11. Die Kommunikation breitet heute ein Netz aus, das den gesamten Globus umfasst, und der Aufruf Christi erhält neue Bedeutung: „Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern“ (Mt 10, 27). Sicher muss das göttliche Wort eine erste Transparenz und Verbreitung durch den gedruckten Text erhalten, mit Übersetzungen in die reiche Vielzahl der Sprachen unseres Planeten. Aber die Stimme des göttlichen Wortes muss auch im Radio erklingen, in den Informationskanälen des Internet, der virtuellen Verbreitung on line, den CDs, DVDs, den podcasts und so weiter; es muss auf den Fernsehschirmen und Kinoleinwänden sichtbar sein, in der Presse, in den kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen.Diese neue Kommunikation hat im Vergleich mit der herkömmlichen eine eigene Ausdrucksweise angenommen, und deshalb ist es notwendig, nicht nur technisch, sondern auch kulturell für dieses Unternehmen ausgerüstet zu sein. In der heutigen vom Bild beherrschten Zeit, das vor allem über das alles beherrschende Medium des Fernsehens vermittelt wird, ist die von Christus bevorzugte Form der Kommunikation immer noch bedeutsam und faszinierend. Er griff auf Symbole zurück, die Erzählung, das Beispiel, die tägliche Erfahrung und Gleichnisse: „Und er sprach lange zu ihnen in Form von Gleichnissen ... er redete nur in Gleichnissen zu ihnen“ (Mt 13, 3.34). In seiner Verkündigung des Reiches Gottes sprach Jesus nie über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg in einer vagen, abstrakten und ätherischen Sprache, sondern er ergriff sie von der Erde aus, auf der sie mit beiden Füßen standen, um sie von der Alltäglichkeit zum Himmelreich zu führen. In diesem Zusammenhang erhält die von Johannes berichtete Episode besondere Bedeutung: „Einige von ihnen wollten ihn festnehmen; aber keiner wagte ihn anzufassen. Als die Gerichtsdiener zu den Hohenpriestern und den Pharisäern zurückkamen, fragten diese: Warum habt ihr ihn nicht hergebracht? Die Gerichtsdiener antworteten: Noch nie hat ein Mensch so gesprochen“ (7, 44-46).

12. Christus geht auf den Wegen unserer Welt und verweilt vor den Türen unserer Häuser: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir“ (Offb 3, 20). Die Familie, die mit ihren freudigen und dramatischen Erfahrungen hinter den Mauern dieser Häuser lebt, ist ein wichtiger Raum, in den das Wort Gottes Eingang finden muss. Die Bibel ist voll von kleinen und großen Familiengeschichten, und der Psalmist stellt sehr lebendig das friedliche Bild eines Vaters dar, der bei Tisch sitzt, umgeben von der Ehefrau, die einem fruchtbaren Weinstock gleicht, und von den Kindern, die „wie junge Ölbäume“ sind (Ps 128). Die ersten Christen feierten Gottesdienst in der alltäglichen Atmosphäre ihrer Häuser, so wie Israel die Feier des Paschafestes der Familie anvertraute (vgl. Ex 12, 21-27). Die Vermittlung des Wortes Gottes erfolgt eben gerade auf dieser Ebene der Generationen, bei der die Eltern zu den „ersten Glaubensboten“ gehören (LG 11). Der Psalmist wiederum rief uns in Erinnerung: „Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten und die Stärke des Herrn, die Wunder, die er getan hat ... sie sollten aufstehen und es weitergeben an ihre Kinder“ (Ps 78, 3-4.6).
In jedem Haus sollte es daher eine Bibel geben, die in würdiger Weise an einem besonderen Ort aufbewahrt, gelesen und zum Beten verwendet wird. Die Familie sollte Formen und Modelle der Erziehung im Gebet, in der Katechese und der Didaktik im Hinblick auf die Verwendung der Heiligen Schrift vorschlagen, damit „die jungen Männer und auch die Mädchen, die Alten mit den Jungen“ (Ps 148, 12) das Wort Gottes hören, verstehen, preisen und leben. Vor allem die jungen Generationen, die Kinder und die jungen Menschen, müssen die Adressaten einer angemessenen und spezifischen Pädagogik sein, die sie dazu anleitet, die Faszination der Gestalt Christi zu verspüren. Durch die Begegnung und das authentische Zeugnis der Erwachsenen, den positiven Einfluss der Freunde und die große Gemeinschaft der Kirche sollen die Tore ihrer Intelligenz und ihres Herzen geöffnet werden.

13. Jesus erinnert uns im Gleichnis vom Sämann daran, dass es trockenen, felsigen und von Dornen zugewucherten Boden gibt (vgl. Mt 13, 3-7). Wer sich auf die Straßen der Welt begibt, entdeckt auch die Untiefen, in denen Leid und Armut angesiedelt sind, Erniedrigung und Unterdrückung, Ausgrenzung und Elend, körperliche und seelische Krankheiten und Einsamkeit. Oft ist der Boden der Straßen durch Kriege und Gewalttaten mit Blut befleckt, in den Palästen der Macht sind Korruption und Ungerechtigkeit eng miteinander verflochten. Es erhebt sich der Schrei der Verfolgten, die treu ihrem Gewissen oder ihrem Glauben folgen. Viele Menschen sind überwältigt von Existenzkrisen und tragen nichts im Herzen, was ihrem Leben Sinn und Wert verleihen könnte. „Wie ein Schatten“ gehen diese Menschen einher und „um ein nichts machen sie Lärm“ (Ps 39, 7). Viele spüren auch auf sich das Schweigen Gottes lasten, seine scheinbare Abwesenheit und Gleichgültigkeit: „Wie lange noch, Herr, vergisst du mich ganz? Wie lange noch verbirgst du dein Gesicht vor mir?“ (Ps 13, 2). Und am Ende erhebt sich vor allen das Geheimnis des Todes.
Dieses gewaltige, leiderfüllte Seufzen, das von der Erde zum Himmel aufsteigt, wird unaufhörlich von der Bibel zum Ausdruck gebracht, die einen geschichtlichen und fleischgewordenen Glauben vorschlägt. Es mag genügen, an die von Gewalt und Unterdrückung gezeichneten Seiten zu denken; an den heftigen und ständigen Schrei von Ijob; an die eindringlichen Bitten in den Psalmen; an die ergreifende innere Krise, die Qohelet durchlebt; an die kraftvollen prophetischen Anklagen der sozialen Ungerechtigkeit. Völlig schonungslos ist ferner die Anklage der tiefverwurzelten Sünde, die in ihrer ganzen zerstörerischen Kraft von den Anfängen der Menschheit an in dem grundlegenden Text der Genesis vorkommt (Kap. 3). In der Tat ist das “mysterium iniquitatis”, das „Geheimnis des Bösen“ in der Geschichte gegenwärtig und am Werk, aber es wird entlarvt vom Wort Gottes, das in Christus den Sieg des Guten über das Böse zusichert.
Die Schriften werden aber vor allem beherrscht von der Person Christi, der sein öffentliches Wirken mit einer Botschaft der Hoffnung für die Geringsten der Erde beginnt: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4, 18-19). Seine Hände legen sich immer wieder auf krankes oder infiziertes Fleisch, seine Worte verkünden die Gerechtigkeit, flößen den Unglücklichen Mut ein, schenken den Sündern Vergebung. Am Ende begibt er sich selbst auf die tiefste Ebene, „er entäußerte sich“ seiner Herrlichkeit „und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich... , er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2, 7-8).
So verspürt er die Angst vor dem Sterben („Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir!“), er verspürt die Einsamkeit aufgrund des Verlassenseins und des Verrats der Freunde, er dringt bei der Kreuzigung ein in die Dunkelheit des grausamsten physischen Schmerzes und sogar in die Dunkelheit des Schweigens seines Vaters („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“), und er gelangt an den tiefsten Abgrund jedes Menschen, nämlich den Tod („Er schrie laut auf. Dann hauchte er seinen Geist aus“). Auf ihn lässt sich wirklich die Definition anwenden, die Jesaja für den Gottesknecht verwendet: „ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut“ (53, 3).
Und doch hört er auch in diesem äußersten Moment nicht auf, der Sohn Gottes zu sein: in seiner von Liebe erfüllten Solidarität und durch das Opfer seiner selbst legt er in die Grenzbereiche und in das Böser der Welt den Samen des Göttlichen, das heißt ein Prinzip der Befreiung und des Heiles. Indem er sich uns hinschenkt, erfüllt er den Schmerz und den Tod, die er selbst auf sich genommen und durchlebt hat, mit Erlösung, und er eröffnet auch uns die Morgenröte der Auferstehung. Der Christ hat somit den Auftrag, dieses göttliche Wort der Hoffnung zu verkünden, durch seine Nähe zu den Armen und Leidenden, durch das Zeugnis seines Glaubens an das Reich der Wahrheit und des Lebens, der Heiligkeit und Gnade, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, durch die liebevolle Nähe, die nicht richtet und nicht verurteilt, sondern aufbaut, erleuchtet, tröstet und verzeiht gemäß den Worten Jesu: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt.“ (Mt 11, 28).

14. Auf den Wegen der Welt bewirkt das göttliche Wort für uns Christen eine die intensive Begegnung mit dem jüdischen Volk, dem wir zutiefst verbunden sind durch die gemeinsame Anerkennung und Liebe zu den Schriften des Alten Testaments, und zudem entstammt Christus „dem Fleisch nach“ dem Volk Israel (Röm 9, 5). Alle Heiligen Schriften des Judentums erhellen das Geheimnis Gottes und des Menschen, sie enthüllen Schätze des Denkens und der Moral, bezeichnen den langen Weg der Heilsgeschichte bis zu ihrer vollkommenen Erfüllung und veranschaulichen eindrücklich die Fleischwerdung des göttlichen Wortes in den menschlichen Wechselfällen. Sie erlauben uns, in Fülle die Person Christi zu erkennen, der erklärt hatte, er sei nicht gekommen, „um das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen“ (Mt 5, 17); sie sind Weg des Dialogs mit dem auserwählten Volk, das von Gott all dies erhalten hat: „die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen“ (Röm 9, 4). Ferner ermöglichen sie uns, unsere Auslegung der Heiligen Schrift mit den fruchtbaren Schätzen der jüdischen exegetischen Tradition zu bereichern.
„Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbbesitz“ (Jes 19, 25). Der Herr breitet also den Schutzmantel seines Segens über alle Völker der Erde aus, erfüllt von der Sehnsucht, dass „alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2, 4). Auch wir Christen sind auf den Wegen der Welt dazu eingeladen - ohne in einen Synkretismus zu fallen, der die eigene geistliche Identität verzerrt oder erniedrigt -, voll Respekt in Dialog zu treten mit den Männern und Frauen der anderen Religionen, die treu die Richtlinien ihrer Heiligen Bücher hören und befolgen, angefangen beim Islam, der in seiner Tradition zahllose Personen, Symbole und Themen aus der Bibel aufgreift und uns das Zeugnis eines aufrichtigen Glaubens an den einen, mitleidsvollen und barmherzigen Gott bietet, den Schöpfer allen Seins und Richter der Menschheit.
Der Christ findet außerdem Gemeinsamkeiten mit den großen religiösen Traditionen des Ostens, die uns in ihren heiligen Schriften die Achtung vor dem Leben, die Kontemplation, das Schweigen, die Einfachheit, die Entsagung lehren, wie dies etwa beim Buddhismus der Fall ist. Im Hinduismus wird der Sinn für das Sakrale, das Opfer, die Pilgerfahrt, das Fasten und die heiligen Zeichen verherrlicht. Im Konfuzianismus werden die Weisheit und die Werte der Familie und der Gesellschaft gelehrt. Auch den traditionellen Religionen mit ihren geistlichen Werten, die in den mündlichen Riten und Kulturen zum Ausdruck kommen, wollen wir unsere herzliche Aufmerksamkeit schenken und mit ihnen einen respektvollen Dialog pflegen. Auch mit jenen, die nicht an Gott glauben, aber danach streben „Recht zu tun, Güte und Treue zu lieben, in Ehrfurcht den Weg mit Gott gehen“ (Mi 6, 8), müssen wir für eine gerechtere und friedlichere Welt zusammenarbeiten und im Dialog unser aufrichtiges Zeugnis für das Wort Gottes anbieten, das ihnen neue und weitere Horizonte der Wahrheit und Liebe offenbaren kann.

15. In seinem Brief an die Künstler (1999) erinnerte Johannes Paul II. daran, dass „die Heilige Schrift zu einer Art gewaltigem Wörterbuch (Paul Claudel) und einem ikonographischen Atlas (Marc Chagall) geworden ist, aus denen die christliche Kultur und Kunst geschöpft haben“ (Nr. 5). Goethe war der Überzeugung, dass das Evangelium die „Muttersprache Europas“ sei. Die Bibel ist, wie man mittlerweile zu sagen pflegt, der „große Kodex“ der universalen Kultur: die Künstler haben in geistiger Weise ihren Pinsel eingetaucht in jenes farbenfrohe Alphabet von Geschichten, Zeichen, Personen, die sich auf den Seiten der Bibel finden; die Musiker haben auf Grundlage der Heiligen Schriften, vor allem der Psalmen, ihre Harmonien geschaffen; die Schriftsteller haben Jahrhunderte lang jene alten Erzählungen wiederaufgenommen, die zu existentiellen Gleichnissen wurden; die Dichter haben sich Fragen gestellt über das Geheimnis des Geistes, über das Unendliche, über das Böse, über die Liebe, über den Tod und über das Leben, wobei sie die poetische Begeisterung einfingen, von der die Seiten der Bibel beseelt sind. Die Denker, die Wissenschaftler und die Gesellschaft selbst wählten oft die geistlichen und ethischen Auffassungen der Bibel (man denke nur etwa an die Zehn Gebote) als Bezugspunkt oder auch als gegensätzliche Position. Auch wenn die in der Heiligen Schrift vorkommende Person oder Idee verzerrt dargestellt wurde, erkannte man doch, dass sie für unsere Zivilisation unersetzlich und von maßgebender Bedeutung war.
Und gerade deshalb ist die Bibel - die uns auch die via pulchritudinis lehrt, das heißt den Weg der Schönheit, um Gott zu erkennen und zu ihm zu gelangen („Singt unserem Gott ein festliches Lied“, lädt uns Psalm 47, 8 ein) - nicht nur für den Gläubigen notwendig, sondern für alle, um die wahre Bedeutung der verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen wiederzuentdecken und vor allem um unsere eigene historische, zivile, menschliche und geistliche Identität wiederzufinden. In ihr liegt die Wurzel unserer Größe und dank ihrer können wir uns ohne Minderwertigkeitsgefühle den anderen Zivilisationen und Kulturen mit unserem edlen Erbe vorstellen. Die Bibel sollte daher von allen gekannt und studiert werden, unter diesem außergewöhnlichen Aspekt der Schönheit und der menschlichen und kulturellen Fruchtbarkeit.
Dennoch ist das Wort Gottes - um ein eindrucksvolles paulinisches Bild zu verwenden – „nicht gefesselt“ (2 Tim 2, 9) an eine Kultur; es strebt vielmehr danach, die Grenzen zu überschreiten, und gerade der Apostel war ein außergewöhnlicher Baumeister der Inkulturation der biblischen Botschaft innerhalb der neuen kulturellen Koordinaten. Die Kirche ist dazu gerufen, auch heute genau dies zu tun in einem delikaten aber notwendigen Prozess, der durch das Lehramt von Papst Benedikt XVI. einen kräftigen Impuls erhalten hat. Sie muss dafür sorgen, dass das Wort Gottes die Vielfalt der Kulturen durchdringen und es durch ihre Sprachen, ihre Auffassungen, Zeichen und religiösen Traditionen zum Ausdruck bringen kann. Sie muss jedoch stets fähig sein, die wahre Substanz seiner Inhalte zu bewahren, indem sie über die Gefahr von Verzerrungen wacht.
Die Kirche muss somit die Werte zur Geltung bringen, die das Wort Gottes den anderen Kulturen anbietet, damit sie gereinigt und befruchtet werden. Johannes Paul II. hat den Bischöfen aus Kenia im Rahmen seiner Afrika-Reise 1980 gesagt, dass „die Inkulturation wirklich ein Widerschein der Fleischwerdung des Wortes sein wird, wenn eine Kultur, die vom Evangelium verwandelt und neu geschaffen wurde, in ihrer eigenen Tradition ursprüngliche Ausdrucksformen des Lebens, des Feierns und des christlichen Denkens hervorbringt“.

 

SCHLUSSBEMERKUNG


„Und die Stimme aus dem Himmel, die ich gehört hatte, sprach noch einmal zu mir: Geh, nimm das Buch, das der Engel ... aufgeschlagen in der Hand hält ... Und der Engel sagte zu mir: Nimm und iss es! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem Mund aber süß wie Honig. Da nahm ich das kleine Buch aus der Hand des Engels und aß es. In meinem Mund war es süß wie Honig. Als ich es aber gegessen hatte, wurde mein Magen bitter“ (Offb 10, 8-11).
Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt, nehmen auch wir diese Einladung an! Treten wir heran zum Tisch des Wortes Gottes, so dass wir uns nähren und leben „nicht nur vom Brot, sondern von allem, was der Mund des Herrn spricht“ (Dtn 8, 3; Mt 4, 4)! Die Heilige Schrift hat - wie eine große Gestalt der christlichen Kultur sagte – „geeignete Mittel, um in allen menschlichen Lagen Trost zu spenden, und geeignete Mittel, um in allen Lebenslagen Furcht zu erwecken“ (B. Pascal, Pensées, Nr. 532, ed. Brunschvicg).
Das Wort Gottes ist „süßer als Honig, als Honig aus Waben (Ps 19, 11), es ist ,,meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119, 105), aber es ist auch „wie Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert“ (Jer 23, 29). Es ist wie Regen, der das Land bewässert, es fruchtbar macht und aufblühen lässt, und auf diese Weise bringt es auch die Trockenheit unserer geistlichen Wüsten zum Blühen (vgl. Jes 55, 10-11). Es ist auch „lebendig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens“ (Hebr 4, 12).
Unser Blick richtet sich voll Zuneigung auch auf die Wissenschaftler, die Katecheten und alle weiteren Diener des Wortes Gottes, denen wir unseren tiefempfundenen und herzlichen Dank für ihren wertvollen und wichtigen Dienst aussprechen wollen. Wir wenden uns dabei auch an unsere Brüder und Schwestern, die Verfolgungen erleiden oder die aufgrund des Wortes Gottes und aufgrund des für Jesus, den Herrn, abgelegten Zeugnisses zum Tod verurteilt wurden (vgl. Offb 6, 9): Wie viele Zeugen und Märtyrer erzählen uns von der „Kraft des Wortes“ (Röm 1, 16), dem Urgrund ihres Glaubens, ihrer Hoffnung und ihrer Liebe zu Gott und zu den Menschen.
Wir wollen nun in Stille verweilen, um andächtig das Wort des Herrn zu hören. Bewahren wir diese Stille auch nach dem Hören, damit es auch weiterhin unter uns wohnt und lebt und zu uns spricht. Lassen wir es zu Beginn des Tages erklingen, auf dass Gott das erste Wort habe, und lassen wir es am Abend in uns widerhallen, auf dass Gott auch das letzte Wort habe.
Liebe Brüder und Schwestern „es grüßen euch alle, die bei uns sind. Grüßt alle, die uns durch den Glauben in Liebe verbunden sind. Die Gnade sei mit euch allen!“ (Tit 3, 15).

 

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