BOTSCHAFT VON KARDINAL-STAATSSEKRETÄR (Rimini, 21.-27. August 2011)
10. August 2011 An Seine Exzellenz Auch in diesem Jahr habe ich die Freude, Eurer Exzellenz, den Organisatoren sowie allen Teilnehmern am »Meeting für die Freundschaft unter den Völkern«, das in diesen Tagen in Rimini stattfindet, den herzlichen Gruß des Heiligen Vaters zu übermitteln. Das für 2011 gewählte Thema – »Und die Existenz wird erfüllt von einer großen Gewißheit« – wirft verschiedene tiefgehende Fragen auf: Was ist Existenz? Was ist Gewißheit? Und vor allem: Was ist die Grundlage der Gewißheit, ohne die der Mensch nicht leben kann? Es wäre interessant, in die überreiche Reflexion einzutreten, die die Philosophie von Anfang an in bezug auf die Erfahrung der Existenz, des Daseins, entfaltet hat. Dabei ist sie zu wichtigen, oft jedoch auch widersprüchlichen und einseitigen Schlußfolgerungen gelangt. Wir können uns aber direkt zum Wesentlichen führen lassen, indem wir von der lateinischen Etymologie des Begriffs »Existenz« ausgehen: »ex sistere«. Heidegger, der es als »Heraustreten« interpretiert, hat den dynamischen Charakter des menschlichen Lebens deutlich gemacht. Aber »ex sistere« führt uns mindestens noch zwei weitere Bedeutungen vor Augen, die die menschliche Erfahrung des Existierens noch besser umschreiben und die gewissermaßen am Ursprung der von Heidegger untersuchten Dynamik stehen. Die Partikel »ex« läßt uns an ein Herkommen und gleichzeitig an ein Loslösen denken. Die Existenz ist also demnach ein »Sein, das von etwas herkommt« und gleichzeitig ein »Über sich Hinausgehen«, gleichsam ein »Transzendieren«, das das »Sein« dauerhaft definiert. Hier berühren wir die ursprünglichste Ebene des menschlichen Lebens: sein Geschaffensein, seine strukturelle Abhängigkeit von einem Ursprung, sein Gewolltsein von jemandem, zu dem es gleichsam unbewußt strebt. Der verstorbene Msgr. Luigi Giussani, der mit seinem fruchtbaren Charisma am Ursprung der Veranstaltung in Rimini steht, hat diese grundlegende Dimension des Menschen immer wieder betont, und das zu Recht: Denn gerade dem Wissen um sie entspringt die Gewißheit, mit der der Mensch dem Leben begegnet. Die Erkenntnis des eigenen Ursprungs und die »Nähe« dieses Ursprungs zu allen Augenblicken der Existenz sind die Voraussetzung, unter der es dem Menschen möglich ist, seine Persönlichkeit wirklich heranreifen zu lassen, positiv in die Zukunft zu blicken und die Geschichte schöpferisch zu gestalten. Diese anthropologische Gegebenheit bestätigt sich bereits in der täglichen Erfahrung: Je mehr ein Kind die Nähe der Eltern erfährt, desto mehr Gewißheit und Sicherheit besitzt es. Aber gerade anhand des Beispiels des Kindes verstehen wir auch, daß die Erkenntnis unseres Ursprungs und folglich unserer strukturellen Abhängigkeit allein nicht ausreicht. Sie könnte im Gegenteil – wie die Geschichte deutlich gezeigt hat – sogar als Belastung erscheinen, von der man sich befreien muß. Was das Kind »stark« macht, ist die Gewißheit der Liebe der Eltern. Wir müssen daher eintreten in die Liebe dessen, der uns gewollt hat, um die Positivität der Existenz erfahren zu können. Wenn eins von beiden fehlt – das Wissen um den Ursprung und die Gewißheit des guten Ziels, zu dem der Mensch berufen ist –, dann ist es unmöglich, die tiefere Dynamik der Existenz zu erklären und den Menschen zu verstehen. Schon in der Geschichte des Volkes Israel, vor allem in der Erfahrung des Auszugs aus Ägypten, die im Alten Testament beschrieben ist, wird deutlich, daß die Kraft der Hoffnung aus der väterlichen Gegenwart Gottes kommt, der sein Volk leitet, aus der lebendigen Erinnerung an sein Wirken und aus der lichtvollen Verheißung hinsichtlich der Zukunft. Der Mensch kann ohne eine Gewißheit über seine Bestimmung nicht leben. »Erst wenn Zukunft als positive Realität gewiß ist, wird auch die Gegenwart lebbar« (Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 2). Aber auf welche Gewißheit kann der Mensch seine Existenz vernünftig gründen? Was ist letzten Endes die »Hoffnung, die nicht zugrunde gehen läßt«? Mit dem Kommen Christi erfüllt sich die Verheißung, die die Hoffnung des Volkes Israel nährte; sie nimmt das Antlitz einer Person an. In Christus Jesus wurde die Bestimmung des Menschen endgültig der Unklarheit entrissen, die sie wie ein Nebel umhüllte. Durch den Sohn, in der Kraft des Heiligen Geistes hat uns der Vater endgültig die positive Zukunft offenbart, die uns erwartet. »Daß es diese Zukunft gibt, ändert die Gegenwart; die Gegenwart wird vom Zukünftigen berührt, und so überschreitet sich Kommendes in Jetziges und Jetziges in Kommendes hinein« (ebd., 7). Der auferstandene Christus, der in seiner Kirche, in den Sakramenten und mit seinem Geist gegenwärtig ist, ist die letzte und endgültige Grundlage der Existenz, die Gewißheit unserer Hoffnung. Er ist das bereits gegenwärtige »Eschaton«; er macht die Existenz selbst zum positiven Ereignis, zur Heilsgeschichte, in der jede Gegebenheit ihre wahre Bedeutung in Beziehung zum Ewigen offenbart. Wenn dieses Bewußtsein fehlt, gerät man leicht in die Fänge des Aktualismus, der Sensationsgier der Emotionen, die alles auf die äußere Erscheinung reduziert, oder der Verzweiflung, in der alles sinnlos erscheint. Dann wird die Existenz zur fieberhaften Suche nach Ereignissen, nach flüchtigen Neuigkeiten, die sich am Ende als enttäuschend erweisen. Nur durch die Gewißheit, die aus dem Glauben heraus entsteht, kann der Mensch die Gegenwart intensiv erleben und gleichzeitig über sie hinausgehen, indem er in ihr den Abglanz des Ewigen entdeckt, auf das die Zeit hingeordnet ist. Nur die Erkenntnis der Gegenwart Christi, Quelle des Lebens und Bestimmung des Menschen, kann die Sehnsucht nach dem Paradies in uns wecken und uns so vertrauensvoll auf die Zukunft ausrichten, ohne Ängste und ohne falsche Illusionen. Die Dramen des letzten Jahrhunderts haben deutlich gezeigt: Wenn die christliche Hoffnung und damit die Gewißheit des Glaubens und das Verlangen nach den »Letzten Dingen« nachläßt, geht der Mensch in die Irre und fällt der Macht zum Opfer. Er beginnt, diejenigen um Leben zu bitten, die das Leben nicht geben können. Ein Glaube ohne Hoffnung hat eine Hoffnung ohne Glauben, eine innerweltliche Hoffnung, aufkommen lassen. Wir Christen sind heute mehr denn je aufgerufen, »jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt«, und in der Welt das »Jenseits« zu bezeugen, ohne das alles unverständlich bleibt. Dazu aber muß man »von neuem geboren werden«, wie Jesus zu Nikodemus gesagt hat, sich durch die Sakramente und das Gebet erneuern lassen, in ihnen den Ort wiederentdecken, wo jede echte Gewißheit geboren wird. Die Kirche, die das Geheimnis der Ewigkeit Gottes in der Zeit gegenwärtig macht, ist das Subjekt, das dieser Gewißheit entspricht. In der kirchlichen Gemeinschaft erreicht uns die »Pro-Existenz« des Sohnes Gottes; in ihr wird das ewige Leben, zu dem die ganze Existenz bestimmt ist, schon jetzt erfahrbar. P. Festugière sagte am Anfang des vergangenen Jahrhunderts: »Die christliche Unsterblichkeit zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Erweiterung einer Freundschaft ist.« Denn was ist das Paradies, wenn nicht die endgültige Erfüllung der Freundschaft mit Christus und unter uns? In dieser Hinsicht, so der französische Ordensmann weiter, »ist es kaum relevant, wo man sich später befindet. In Wahrheit ist der Himmel dort, wo Christus ist. So verlangt das liebende Herz nach keiner anderen Freude als der, auf immer beim Geliebten zu leben «. Existenz bedeutet daher nicht, blindlings voranzuschreiten, sondern dem entgegenzugehen, der uns liebt. Wir wissen, wohin wir gehen, auf wen wir zugehen, und das gibt der ganzen Existenz Orientierung. Exzellenz, ich hoffe, daß diese kurzen Gedanken den Teilnehmern am »Meeting« eine Hilfe sein mögen. Seine Heiligkeit Benedikt XVI. möchte alle gern seines Gebetsgedenkens versichern und sendet in der Hoffnung, daß die Reflexion dieser Tage die Gewißheit stärken möge, daß nur Christus unsere menschliche Existenz völlig erleuchtet, Ihnen, den Verantwortlichen und den Organisatoren der Veranstaltung sowie allen Anwesenden von Herzen einen besonderen Apostolischen Segen. Gern nehme ich die Gelegenheit wahr, auch meinerseits einen herzlichen Gruß zu senden, und verbleibe hochachtungsvoll
Kardinal Tarcisio Bertone
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