BEITRAG DES HL. STUHLS ANSPRACHE VON MSGR. SILVANO M. TOMASI Genf
Herr Präsident! 1. Die Zukunft ist eine Herausforderung, vor der die internationale Gemeinschaft und die einzelnen Länder stehen; sie ist von dem wachsenden Bewußtsein gekennzeichnet, daß wir nur gemeinsam Fortschritte machen und den rechten Weg zu einem wahrhaft menschlichen Leben finden können. Der rasche Wandel mag Zweifel aufkommen lassen, zur Isolation verleiten und das Vorankommen vorübergehend aus der Bahn werfen. Aber der Globalisierungsprozeß schreitet fort: Ihn umfassend werden zu lassen und jene Hindernisse zu beseitigen, die seine vorteilhafte Auswirkung für alle vereiteln, ist die Verpflichtung, die aus dieser 93. Internationalen Arbeitskonferenz hervorgeht. Der von der einzigartigen Kollaboration zwischen Staaten, Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgehende Solidaritäts- und Unternehmungsgeist zeigt ein Modell gegenseitiger Abhängigkeit, das andere internationale Organisationen bereichern kann – in diesem Augenblick, in dem wir um Reformen bemüht sind, die einen wirksameren Dienst an der gesamten Menschheitsfamilie ermöglichen. 2. Der Weg zu menschenwürdiger Arbeit für ein menschenwürdiges Leben in einer Welt, in der die Globalisierung der Solidarität ein aktiv angestrebtes Ziel ist, beginnt effektiv bei den jungen Menschen und der Förderung ihrer Beschäftigung. Mit Dringlichkeit muß der Tatsache begegnet werden, daß weltweit weniger als die Hälfte der arbeitsfähigen Jugendlichen 2004 eine Anstellung hatte und schätzungsweise 59 Millionen junge Menschen zwischen 15 und 18 Jahren unter gefährlichen Bedingungen arbeiten. Bereits während seines Besuchs 1982 bei der IAO fragte Johannes Paul II.: »Kann man eine Situation hinnehmen, die die Gefahr in sich birgt, die Jugendlichen ohne die Aussicht zu lassen, eines Tages Arbeit zu finden, oder die jedenfalls droht, sie für ein Leben lang zu zeichnen?« (vgl. Ansprache vom 15. Juni 1982 an die 68. Internationale Arbeitskonferenz in Genf, 12; in O.R. dt., Nr. 29, 16.7.2005, S.6). Das Fehlen innovativer Technologien macht es in Entwicklungsländern schwierig, Forschungsergebnisse in produktive Initiativen zu verwandeln. Vor allem in einer wissensbasierten Wirtschaft muß der Erziehung und Ausbildung eindeutig Vorrang gegeben werden. Gleichzeitig sollte Jugendarbeitslosigkeit in diesen Kontext einbezogen werden. Die gesamte Wirtschaftsstruktur der Entwicklungsländer muß in ihrem Aufbau unterstützt werden und die Möglichkeit haben, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein. Menschenwürdige Beschäftigungen für junge Menschen haben unsichere Lohn- und Gewinnchancen. Ihre durch angemessene technische Kenntnisse und gesundes Verantwortungsbewußtsein geförderte Kreativität kann ihre begrenzte Erfahrung ausgleichen und selbst zusätzliche Arbeitsplätze schaffen durch jene Mikrounternehmen, die sie mit angemessenen Krediten gründen können. Gemeinschaften, in denen junge Menschen arbeitslos sind, verlieren die Hoffnung. Die schöpferische Kraft junger Menschen, die nicht auf produktive Ziele gelenkt wird, ist nutzlos und wird verschwendet. Die Gefahr, daß Arbeitsmangel und geringe Beschäftigungsmöglichkeiten junge Menschen in die zerstörende Unterwelt der Drogen, der Gewalt, der Kriminalität und sogar des Terrorismus führt, ist bedauerlicherweise sehr real. In seiner ersten sonntäglichen Ansprache, vor dem Regina Caeli am 1. Mai 2005, wandte sich der Heilige Vater Benedikt XVI. an die zahlreichen Arbeitnehmer und wünschte, daß »die Solidarität, die Gerechtigkeit und der Frieden zu jenen Pfeilern werden, auf denen die Einheit der Menschheitsfamilie aufgebaut wird«. Er rief dazu auf, das »Evangelium der Arbeit« in der heutigen Gesellschaft zu bezeugen. »Mein Wunsch ist«, fügte er hinzu, »daß es vor allem den jungen Menschen nie an Arbeit fehlen möge und daß die Arbeitsbedingungen immer mehr die Würde der menschlichen Person achten« (in O.R. dt., Nr. 18, 6.5.2005, S.1). 3. Menschenwürdige Arbeit für alle in einer von nachhaltiger Entwicklung geprägten Welt zu schaffen war eine seit langem bestehende gemeinsame Basis für einen fruchtbaren Dialog zwischen der IAO und der Soziallehre der Kirche. Die Würde jeder menschlichen Person erfordert Zugang zu Arbeit in persönlicher Sicherheit, Gesundheit, gerechter Entlohnung und sicherer Umgebung. Arbeit ist ein Recht und Ausdruck menschlicher Würde. Meine Delegation sieht Arbeitslosigkeit daher als einen »wahren sozialen Notstand« und bestärkt internationale Organisationen, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierungen sich zusammenzuschließen, rechtliche Schutznormen zu verschärfen und die Durchführung bestehender Übereinkommen zu fördern. In einer solchen Übereinstimmung der Kräfte ist es bedeutsam, daran zu erinnern, daß die letzte von Papst Johannes Paul II. vorgesehene offizielle Audienz dem Generaldirektor der IAO vorbehalten war. Der Besuch des Papstes bei der IAO und seine maßgebliche Enzyklika über die menschliche Arbeit, Laborem Exercens, werden ein dauerhafter Beitrag bleiben. Sehr geschätzt wurde die Anwesenheit des Generaldirektors bei der Beisetzung des Papstes und beim Amtsantritt Benedikts XVI. Es besteht Übereinstimmung darin, daß Arbeit die treibende Kraft für Entwicklung und Beseitigung von Armut ist, für die Erschließung der verborgenen Ressourcen der Natur, für die persönliche und berufliche Erfüllung, für die Unterstützung der Familie und die soziale Mitwirkung am Wohl der Gesellschaft. 4. Einem bekannten Ausspruch zufolge – auf globaler Ebene denken, auf lokaler Ebene handeln – müssen grundlegende Prinzipien und strategische Ziele in das tägliche Leben der Menschen eingebunden werden, um etwas zu verändern. Im Bericht des Generaldirektors heißt es, daß gemeinsame Bemühungen erforderlich sind, »um dieses Eintreten für menschenwürdige Arbeitsaussichten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene« aufrechtzuerhalten und zu intensivieren und Länderprogramme für menschenwürdige Arbeit durchzuführen, so daß wir uns in dieser positiven Richtung fortbewegen. Dennoch ist eine entschlossenere Unterstützung der schwächsten Arbeiterkategorien erforderlich. Konsequentes Vorgehen gegen Zwangsarbeit auf nationaler Ebene und in Kollaboration mit der internationalen Gemeinschaft kann diese menschenunwürdigste Arbeit ausrotten, die keinen Platz in der modernen Welt haben sollte. Die erstmals bei dieser Konferenz verfügbaren Schätzungen sprechen für sich: Heute sind mindestens 12,3 Millionen Menschen weltweit Opfer von Zwangsarbeit. 9,8 Millionen von ihnen werden durch privat auferlegte Arbeit ausgebeutet, darunter sind über 2,4 Millionen Opfer von Menschenhandel; ein weltweites Geschäft von 32 Milliarden Dollar. Weitere 2,5 Millionen Menschen werden vom Staat oder von aufständischen Militärgruppen zur Arbeit gezwungen (Internationales Arbeitsbüro: Eine globale Allianz gegen Zwangsarbeit, Bericht I.(B) Internationale Arbeitskonferenz, 93. Tagung 2005). Die menschliche Person wird eindeutig als Produktionsinstrument angesehen, ihre Freiheit verletzt, die auf der Arbeit gründenden Rechte unterdrückt. Wenn Arbeit aus dem breiteren Kontext menschlicher Rechte herausgenommen wird, gewinnen die schlimmsten Formen der Ausbeutung die Oberhand. 5. Ein wichtiges Zeichen der kontinuierlichen dynamischen Arbeit der IAO ist ihr beharrlicher Einsatz, der sich sowohl auf Zwangsarbeit als auch auf alle Sektoren der Arbeitswelt richtet, die stärkster Ausgrenzung unterliegen. Die auf See tätigen Menschen sind nicht vergessen worden. Ein dringend notwendiges Instrument mit dem Potential, das Leben von 90 Prozent der Fischer, einer der am wenigsten berücksichtigten Berufe, zu verbessern, ist das Übereinkommen, das hoffentlich von dieser Konferenz gebilligt und zur Ratifizierung zugelassen werden wird. Es ist schwierig und somit eine große Leistung, ein Abkommen zu treffen, das in ausgewogener Form sehr unterschiedliche Situationen berücksichtigt, die vom kleinen Fischer, der auf seinem Boot mit dem Netz seinen Unterhalt verdient, bis zu kommerziellen Fischereibooten reichen, die teilweise technisch hochentwickelt und regelrecht weiterverarbeitende Fabrikschiffe auf hoher See sind. Die Fischerei ist eine komplexe und gefährliche Tätigkeit mit einem hohen Prozentsatz an Arbeitsunfällen, Todesfällen und Verletzungen. Das vorgeschlagene Übereinkommen: »Arbeit im Fischereisektor« und seine Empfehlungen können jede Art von professioneller Fischerei sicherer und zu einem menschenwürdigen Arbeitsbereich machen. 6. Erstmals werden ein integriertes Vorgehen und Rahmenbedingungen für den Arbeitsschutz im Hinblick auf berufsbedingte Verletzungen und Krankheiten vorgeschlagen. Die Kombination von Normen, klar erkennbarer Verantwortlichkeit und Mechanismen zur Einhaltung der Normen sollte die Vorbeugung intensivieren und das Wohl der Beschäftigten und ihre Leistungsfähigkeit fördern. Es ist tragisch festzustellen, daß tödliche und nicht tödliche Unfälle auf 270 Millionen geschätzt werden, und etwa 160 Millionen Arbeitnehmer an beruflich bedingten Krankheiten leiden (IAO, Förderungsrahmen für den Arbeitsschutz, 93. Tagung 2005). Ein Instrument, das sich mit neuem Engagement der berufsbedingten Sicherheit und Gesundheit widmet, scheint in der Tat zeitgemäß und angebracht zu sein. 7. Herr Präsident, die Entwicklung der Wirtschaft, die Fortschritte der Technologie und die Entwicklung der globalisierten Organisation der Gesellschaft werfen ständig neue Fragen und Probleme auf. Für den Aufbau der Zukunft hat die Arbeit weiterhin zentrale Bedeutung. Doch Protagonist ihrer Arbeit ist die menschliche Person und die Wahrung ihrer Würde und zentralen Stellung in allen neuen Gegebenheiten ist die beste Garantie für eine gerechtere und friedlichere Welt.
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