ZWÖLFTE STATION
V/. Adoramus te, Christe, et benedicimus tibi.
Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: »Frau, siehe, dein Sohn!« Dann sagte er zu dem Jünger: »Siehe, deine Mutter!« Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. BETRACHTUNG Sie hatte begonnen, sich von diesem Sohn loszulösen, seit er ihr eines Tages, mit zwölf Jahren, gesagt hatte, daß er ein anderes Zuhause und eine andere Sendung habe, die er erfüllen müsse im Namen seines himmlischen Vaters. Jetzt ist jedoch für Maria der Augenblick der endgültigen Loslösung gekommen. In jener Stunde ist das große Leid jeder Mutter enthalten, die die Logik der Natur, nach der die Mütter vor ihren Kindern sterben, auf den Kopf gestellt sieht. Aber der Evangelist Johannes wischt jede Träne von diesem schmerzerfüllten Antlitz, läßt jeden Schrei auf diesen Lippen verstummen, läßt Maria nicht vor Verzweiflung zu Boden stürzen. Im Gegenteil, es ist ein Schleier des Schweigens da, das gebrochen wird von einer Stimme, die vom Kreuz herabkommt, aus dem gequälten Antlitz ihres sterbenden Sohnes. Es ist weit mehr als ein Familientestament: Es ist eine Offenbarung, die einen Wendepunkt im Leben der Mutter bedeutet. Jene endgültige Loslösung im Tod ist nicht fruchtlos, sondern sie birgt eine unvermutete Fruchtbarkeit in sich, der Niederkunft einer Mutter ähnlich, genau wie Jesus selbst wenige Stunden zuvor, am letzten Abend seines irdischen Daseins, verkündet hatte: »Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert, weil ihre Stunde da ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist« [1] . * * * Maria wird wieder zur Mutter: Nicht umsonst steht in den wenigen Zeilen des biblischen Berichts fünfmal das Wort »Mutter«. Maria wird also wieder zur Mutter, und ihre Kinder werden all diejenigen sein, die so sind wie der »Jünger, den Jesus liebte«, das heißt all diejenigen, die sich unter den Schutzmantel der erlösenden göttlichen Gnade stellen und die Christus im Glauben und in der Liebe nachfolgen. Von jenem Augenblick an wird Maria nicht mehr allein sein, sie wird zur Mutter der Kirche werden, zur Mutter eines unermeßlich großen Volkes aus allen Sprachen, Völkern und Nationen, das durch alle Jahrhunderte hindurch mit ihr dichtgedrängt beim Kreuz Christi, ihres Erstgeborenen, stehen wird. Auch wir gehen von jenem Augenblick an mit ihr auf den Wegen des Glaubens, befinden uns mit ihr zusammen in dem Haus, in dem der Geist des Pfingstfestes weht, nehmen an dem Tisch Platz, wo das Brot der Eucharistie gebrochen wird und warten auf den Tag, an dem ihr Sohn zurückkehren wird, um uns wie sie in seine ewige Herrlichkeit zu führen. Alle: Pater noster, qui es in caelis Fac me tecum pie flere,
[1]
Johannes 16,21.
© Copyright 2007 - Libreria Editrice Vaticana
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